„Nach dem Mord fühlte ich mich frei“

Nezir Bulut saß sieben Jahre im Gefängnis – weil er den Mörder seines Bruders umbrachte. Rache sei in seiner Familie eine Selbstverständlichkeit, trotzdem bereut der Ehrenmörder heute seine Tat und sieht sich auch als Opfer

Nezir Buluts Familie stammt aus Kiwex, einem kurdischen Bergdorf in Anatolien, und gehört der jesidischen Religionsgemeinschaft an. Als Elfjähriger kommt Nezir nach Deutschland, nach dem Abitur beginnt er ein Lehramtsstudium. Sein Leben ändert sich grundlegend, als sein Bruder ermordet wird und die Familie Rache verlangt. Der Sohn des Getöteten weigert sich, einen Ehrenmord zu begehen, und wählt den Freitod. 2001 bringt Bulut den Mörder selbst um und wird anschließend zu elf Jahren Haft verurteilt, von denen er sieben absitzen muss. Während dieser Zeit schreibt er „Nuri – Der Ehrenmörder“. Heute lebt er auf Bewährung und arbeitet als Mediengestalter.

INTERVIEW GINA BUCHER

taz: Herr Bulut, wie werden Sie von Ihren Mitmenschen betrachtet?

Nezir Bulut: Aus der Sicht der Jesiden bin ich ein Ehrenmörder, in ihrer Kultur ist das positiv besetzt. Aus der Perspektive meiner deutschen Freunde bin ich aber ein Mörder. Auf der einen Seite verachtet, und auf der anderen Seite verehrt man mich.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie es ist, eigentlich keine Wahl zu haben.

Dieses Dilemma ist genau das Problem. Auf der einen Seite bin ich in diesem System und Teil einer unheimlich starken Gemeinschaft. Jeder weiß, dass man immer füreinander da ist. Das bedeutet aber auch eine sehr große Abhängigkeit. Gleichzeitig wuchs ich in einer westlichen Welt auf und kenne die individuelle Freiheit, wo man selber sein Leben und seine Entscheidungen in die Hand nimmt. Das ist für mich ein Widerspruch. Wenn ich in der Familie bin, entscheidet die Gemeinschaft für mich. Wenn nicht, dann muss ich meinen eigenen Weg gehen. In dieser Situation ist deshalb die entscheidende Frage, ob man die Ächtung der Familie erträgt – oder ob man sich für die Familie und Geborgenheit entscheidet.

Wie fordert die Familie dazu auf, eine solche Tat zu begehen?

Nicht direkt, trotzdem spürt man den Druck. Eine Art Atmosphäre des Schweigens, der man ausgesetzt ist und der man sich nur schwer entziehen kann, wenn man innerhalb der Familie ist.

Das müssen Sie erklären

Meinem Neffen gegenüber wurde immer wieder gesagt: „Dein Vater ist gestorben. Er wurde getötet. Und du bist hier. Nicht wahr?“ Die Schwestern, die Verwünschungen aussprechen. Oder die Klageweiber, die immer weinten, um mir zu vermitteln, was der Verlust meines Bruders bedeutet. Dieses Schweigen fordert indirekt dazu auf.

Eine Aufforderung, die man ignorieren könnte.

Nur, wenn man sich außerhalb befindet. Wenn ich in jener Zeit von meiner Familie zu mir nach Hause fuhr, kehrte ich wieder in meine Welt zurück. Dort hatte ich Distanz und auch andere Gedanken – die gegenüber meiner Familie verräterisch waren.

Wie erfuhren Sie von dem Mord?

Ich war beim Handballtraining, als ein Freund vom Mord an meinem Bruder im Radio hörte. Ich konnte das nicht fassen. Das war ja mein Bruder, mit ihm wuchs ich auf. Reflexartig fuhr ich zu meiner Familie. Bei der Trauerfeier waren alle da, meine Verwandtschaft und Bekannte meines Bruders.

Was passierte in dieser Zeit mit Ihnen?

Zuerst war das ein Schock. Für mich, für meine Familie. Natürlich wurde dann Rache eingefordert. Nicht direkt, das war eine Selbstverständlichkeit. Es stellte sich lediglich die Frage: wer?

Wie löste sich diese Frage?

Ursprünglich war mein Neffe für den Mord auserwählt. Erst als er sich das Leben nahm, fühlte ich die Gefahr, die auf mich zukam. Ich hatte Angst. Obwohl ich noch nichts getan hatte, fühlte ich mich bereits wie ein Mörder. Ich erlebte die Tat bereits im Voraus. Mehrmals.

Warum fühlten Sie sich verpflichtet und nicht ein anderes Familienmitglied?

Es war klar, dass entweder ein Bruder die Tat rächen wird oder eventuell ein Neffe. Es ging ja nur noch darum, wer es macht. Es ging nicht darum, ob. Das war eine feststehende Regel. Denn es war eindeutig, dass man Unrecht an unserer Ehre getan hatte.

Darüber haben Sie geredet?

Nein, nein. Das war eindeutig. Man weiß das. Das ist selbstverständlich. Auch mein Neffe wusste, dass er seinen Vater rächen muss. Das bekommt man während seiner Erziehung mit – das läuft im Hintergrund ab.

Ist es „Ehrensache“, die Tat alleine vorzubereiten?

Ja, absolut. Ich wollte auf keinen Fall meine beiden Brüder oder meinen Vater in die Geschichte involvieren.

Wie kann die Familie nicht involviert sein, wenn doch diese zur Tat verpflichtete?

Wir diskutierten ja nicht darüber. Ich musste ihnen nicht erzählen, ich fahre da jetzt hin und ihr verhaltet euch so.

Was fühlten Sie?

Auch Schuldgefühle gegenüber meiner Familie: Jetzt muss du für sie da sein, du hast dich die ganze Zeit gegen sie entschieden.

Und der Hass, war das ein konstantes Gefühl?

Nein. Ganz am Anfang war das eher betäubend, ich begriff nicht wirklich, was alles passierte. Anfänglich war ich nur mit der Trauer beschäftigt. Aber bei uns weint ein Mann nicht, er muss Stärke beweisen. Der Hass entwickelte sich erst im Nachhinein: nachdem mein Bruder beerdigt war und nachdem sich mein Neffe das Leben genommen hatte. Wie eine Pflanze, die langsam wächst.

Was sagte Ihr Verstand dazu?

Der Hass in mir legte sich dazwischen schlafen. Ich hasste die Menschen nicht mehr, sah sie im Gerichtssaal nicht mehr. So begann das Nachdenken. Ich durchdachte alle Möglichkeiten: Was kann ich retten und was nicht? Und die Familie hat natürlich die ganze Zeit darauf gewartet, dass Rache geschieht.

Die Anerkennung der Familie war Ihnen wichtiger als Ihre Freiheit?

Ich erfuhr in jener Zeit keine Liebe. Ich wollte einfach gerne verhindern, dass ein anderer in der Familie Rache übt. Das klingt jetzt wohl unglaubwürdig, dass ich akzeptiert werde von der Familie, von der Gemeinschaft. Diese Achtung habe ich erst durch diese Tat erfahren.

Was wäre passiert, wenn Sie sich anders entschieden hätten?

Das habe ich mich immer wieder gefragt. Aber was hätte ich tun können? Meinem Brüdern erklären, dass es nicht gut ist?

Zum Beispiel.

Das wäre mutig gewesen. Aber dann hätte jemand anders in der Familie die Tat verübt. Ich hätte sie nicht davon abhalten können.

Wie hätten Ihre Brüder denn reagiert, hätten Sie mit ihnen über Ihren inneren Konflikt gesprochen?

Ich weiß es nicht. Meine Brüder sind der Tradition nicht unbedingt mehr als ich verhaftet, aber sie sind dem Ganzen näher. Sie haben nicht so viel Kontakt zu Deutschen wie ich. Sie sprechen kaum oder nur schlecht Deutsch. Da ist schon eine sehr große Differenz zwischen uns – auch im Denken.

Sie sahen also keine Alternative?

Ich hätte meine Familie bei der Polizei anzeigen können. Das wäre für mich aber grotesk gewesen. Mein Bruder wird ermordet, mein Neffe nimmt sich das Leben, und ich zeige meine Brüder an. Und all das, weil meiner Familie Unrecht getan wurde. Das wäre nicht logisch. Wen hätte ich denn anzeigen sollen? Gut, ich selbst hätte sagen können: Nein, ich mach das nicht. Ich hätte einfach gehen müssen.

Das wäre doch eine Möglichkeit gewesen?

Ja. Aber es war ja nicht so, dass ich der Tat völlig abgeneigt war. Ich bin kein Engel, ich empfand Hass. Ich war der Idee der Rache nicht abgeneigt, dennoch hielt ich das nicht nur für gut – und trotzdem habe ich das getan.

Wie stehen Sie heute zu Ihrer Verwandtschaft?

Ab und zu besuche ich sie, und sie nehmen mich herzlich auf. Sonst habe ich mit der Familie nicht viel zu tun. Es ist so wie vorher. Ich habe mein eigenes Leben. Wenn ich keine Lust habe, meine Familie zu sehen, dann fahre ich nicht hin.

Über was wird während dieser Besuche gesprochen?

Ach, Verschiedenes. Keine Diskussionen, sondern man fragt, wie es geht. Manchmal rufen Verwandte an und nutzen die Gelegenheit, mit mir zu sprechen, weil ich nie ans Handy gehe. Ich selber rede wenig, eigentlich gar nichts. Ich spiele lieber mit den Kindern – wie sich das für einen Lehrer gehört.

Wie zollt Ihnen die Familie Anerkennung?

Ich kann machen, was ich möchte, ich habe eine Art Freikarte. Sie geben mir Geld, wenn ich welches brauche. Auch wenn ich es nicht brauche. Meine Schwestern und Schwager schenkten mir ein Auto. Onkel und Tanten küssen mir den Kopf. Manchmal ist das ein gutes Gefühl. Aber sie ehren eben nicht mich, nicht meine Persönlichkeit, sondern meine Tat. Das enttäuscht mich so sehr.

Warum?

Weil sie mich für etwas respektieren, wofür ich mich selber verachte: die Tat.

Wieso haben Sie das Auto und das Geld trotzdem angenommen?

Weil ich es brauchte. Ich war im offenen Vollzug und hatte nichts. Das Auto bedeutete für mich Freiheit: damit konnte ich an die Uni, zur Arbeit und Freunde besuchen.

Ist das nicht ein Widerspruch zu den Zweifeln, die Sie haben?

Doch, natürlich, das ist ein Widerspruch … (überlegt und schweigt). Ja, und dann habe ich auch noch ein zweites bekommen …

noch mehr Widersprüche.

Ja, es sind lauter Widersprüche … (seufzt) … der Audi A4 war mir zu pompös, ich wollte lieber einen VW. Jeder gab Geld, und sie bezahlten mir das. Das war Luxus.

Kein schlechtes Gewissen?

Als ich darauf angewiesen war, hatte ich kein schlechtes Gewissen. Manchmal dachte ich daran, wie sehr ich für sie gelitten hatte, also ist es richtig, wenn sie mir helfen wollen. Und letztlich beehre ich sie damit, wenn ich die Geschenke annehme, dafür sind sie dankbar.

Wie rechtfertigen Sie sich Freunden gegenüber?

Gar nicht. Vielleicht klingt das manchmal so, aber ich will mich nicht rechtfertigen. Ich will mich dafür erklären. Manche können das nachvollziehen, andere nicht. Einige distanzieren sich von mir, manche suchen meine Nähe. Damit kann ich leben.

und sich selbst gegenüber?

Manchmal sage ich mir: Du konntest nicht anders. Das ist vielleicht so eine Art Trost, aber oft hasse ich mich dafür. Dann spüre ich einen Druck auf der Brust, mein Magen zieht sich zusammen, und ich würde am liebsten explodieren. Wenn ich zum Beispiel bei einem Praktikum in der Schule bin, realisiere ich, dass ich nie mehr als Lehrer mit den Schülern arbeiten kann. Damit aber muss ich klarkommen, für dieses Leben habe ich mich entschieden.

Wie fühlten Sie sich unmittelbar nach der Tat?

Gut! Nach der Tat war ich ruhig, das war ein gutes Gefühl. Ich wurde festgenommen, aber ich war frei.

Frei wovon?

Von den Erwartungen meiner Familie und von dem Druck. Und auch frei, weil ich mich entschieden hatte. Vorher war das sehr schlimm für mich, ich konnte vor meiner Entscheidung nicht flüchten.

Wie lange fühlten Sie sich frei?

Erst Wochen später habe ich begriffen, was ich getan hatte. Ich glaubte nicht, dass ich das war. Viele Details hatte ich gar nicht wahrgenommen. Zum Beispiel dachte ich, ich hätte zweimal geschossen. Die Polizei aber sprach von fünf Schüssen – genau wie mein Bruder ermordet wurde. So realisierte ich langsam das Geschehene. In dieser Zeit weinte ich viel. Ich war traurig darüber, was ich da getan hatte, was nicht in Ordnung war.

Fühlen Sie sich mehr als Opfer oder als Täter?

Beides – aber manchmal mehr als Täter.

Was ist schwerer?

Das Opfer zu sein, weil man hilflos ist. Als Täter muss man mit Schuldgefühlen klarkommen, aber da ist man nicht hilflos. Ich komme zwar nicht klar damit, dass ich etwas Unrechtes getan habe, versuche das aber zurechtzubiegen. Ich mag die Hilflosigkeit nicht.

Auch nicht in der Geborgenheit der Familie?

Nein. Manchmal wünsche ich mir, dass die Tat von mir selber gewollt und gewünscht worden wäre, dass ich ein überzeugter Täter gewesen wäre. Dann könnte ich es schätzen, dass mich die Familie achtet. Dann würde ich aber auch nicht mit Ihnen reden.

Warum haben Sie sich nach dem Gefängnis nicht in die Welt Ihrer Familie, wo Sie ein Held sind, zurückgezogen?

Weil es nicht meine Welt ist. Ich fühle mich dort nicht wohl. Ich gehöre zwar zur Familie, aber ich habe nie mit ihnen gelebt, und fühle mich fremd mit ihnen.

Passen dieses Unwohlsein und das Genießen der Achtung zusammen?

Ich erzähle meiner Familie ja nicht, dass ich mich unwohl fühle. Die Besuche sind für mich Pflichtveranstaltungen. Manchmal freue ich mich natürlich auch, meinen Vater oder die Kinder zu sehen. Aber ich nehme das so hin.

Ihre Familie hat mit der verfeindeten Frieden geschlossen, stimmt das?

Das ist nur die offizielle Version.

Das heißt, dass auch Sie gerächt würden, würde Ihnen etwas zustoßen?

Selbst wenn ich meine Brüder bitten würde, mich nicht zu rächen, würden sie meiner Bitte nicht nachkommen.

Enttäuscht Sie das?

Ja, weil es weitergeht und sich auf die nächste Generation überträgt.

Hätten Sie einen Sohn, was würden Sie ihm raten?

Wenn mir etwas zustößt, müsste mein Sohn lernen, mit dem Schmerz umzugehen. Er müsste erkennen, dass seine Rache fatale Konsequenzen hat. Ich wünsche mir, dass er dann intelligent und erhaben genug ist, um das nicht zu tun. Darum würde ich ihn bitten.

Verspüren Sie Wut auf Ihre Familie? Was sie Ihnen antat?

Sie können ja nichts dafür, so viel weiß ich. Klar, manchmal im Gefängnis empfand ich Wut auf meine Familie. Im Nachhinein aber weiß ich, dass sie in einem System aufgewachsen sind, das sie bestimmt. Wir verinnerlichen Werte und Weltbilder, die uns das System vorgibt. Der Druck verteilt sich von der Gemeinschaft auf die Individuen.

Aber bestraft wurden letztlich nur Sie.

Nicht nur die Familie, auch die Gemeinschaft hat Schuld – an sich müsste die ganze Gemeinschaft bestraft werden. Aber wie soll man das machen? Man kann ja Schuld nicht wiegen.

Wer ist Ihnen in der Familie besonders wichtig?

Mein Vater, ich höre ihm gerne zu, akzeptiere seine Welt und seine Gedanken.

Akzeptiert er auch Ihre Welt?

Ich weiß, dass er anders denkt als ich. Er kann vielleicht meine Welt nicht verstehen, aber ich muss ihm meine Welt nicht mitteilen. Er weiß nur, dass ich woanders lebe. Sonst weiß er wenig. Manchmal fragt er mich, wo ich wohne, wie groß meine Wohnung ist, ob ich eine Decke habe, etwas brauche. Und er gibt mir immer etwas Geld, obwohl er selbst keines hat und ich seines nicht will. Aber ob ich eine Freundin habe, ob ich sie heiraten möchte, fragt er nicht.

Sie möchten gerne heiraten. Die Familie Ihrer Freundin lehnt Sie aber als Ehemann ab. Müsste der Ehrenmord nach der traditionellen Logik nicht ein Pluspunkt sein?

Sie haben abgelehnt, weil sie fürchten, involviert zu werden. Der Vater meiner Freundin mag mich und kann meine Tat nachvollziehen. Ihre Familie aber forderte von meiner, dass wir uns mit der verfeindeten Familie vertragen. Meine Familie war außer sich und kann nicht verstehen, wie man so etwas von ihnen erwarten kann.