ARNO FRANK ÜBER GERÄUSCHEWAS HABEN NEU YORK UND NEUKÖLLN GEMEINSAM? BEIDERORTS ERKLINGT EIN STRAHLENTRIEBWERKHAFTES KREISCHEN
: Das unverdiente Geschenk des Baby Hegarty

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Stimmen! Ich höre Stimmen! Tag und Nacht! Schönes Thema für einen heiteren Text. Allein, es ist nicht leicht, mit einem Achtwöchigen auf den Knien eine Kolumne zu schreiben. Zwar wird der puren Präsenz eines Säuglings von wohlwollenden Kritikern prinzipiell eine beruhigende Wirkung zugesprochen. Diese Wirkung verkehrt sich allerdings spornstreichs ins Gegenteil, sobald das Ächtwöchige mit zwar beschränkten, aber doch durchaus ausreichenden Leibeskräften zu brüllen beliebt. Was es übrigens gerade wieder tut. Wie das auf mich wirkt?

Nun, neulich habe ich einem Kollegen das aktuelle Album von Antony Hegarty gebrutzelt. Hegarty ist ein etwas kunstreligiös angehauchter, angenehm weichlicher Sänger aus New York mit einer ziemlich extraterrestrischen Stimme, an der die Meinungen in genau zwei Richtungen auseinandergehen: Entweder empfindet man diese Stimme als unerträgliches Gewinsel – oder eben, wie ich, als ein unverdientes Geschenk des Himmels. Dazwischen gibt es nichts. Dafür gibt es akademische Apologeten mit Professur und Agenda, die Hegarty in elaborierten und mit vielen wichtigen Fußnoten versehenen Aufsätzen wissenschaftlich nachweisen, im stolzen Besitz der weltweit ersten und natürlich schönsten „transgender voice“ zu sein. Als ich ihn danach fragte, winkte er bescheiden ab: „Äh, das ist nett, aber nein, ich glaube, das ist halt einfach meine Stimme“. Tja, wenn’s die Geschlechterforschung weiterbringt … egal. Mein Kollege jedenfalls meinte tags darauf, er habe zwar reingehört, hätte aber nach genau 20 Sekunden wieder abstellen müssen. In diesen Sekunden passiert eigentlich nicht viel. Hegarty singt tastend die Worte „Every … everything“, tupft danach ein wenig ziellos auf dem Piano herum, bevor er, jetzt entschlossener, den eben angebrochenen Satz komplettiert: „Everything is new“, und das war’s schon. Mein Kollege aber empfindet tief: „Mir war das in dem Moment einfach zu intensiv.“ So jedenfalls wirkt das kreissägende und phasenweise sogar strahlentriebwerkhafte Organ des Achtwöchigen auf mich und meine väterlichen Ohren. Irgendwie zu intensiv, Ohropax zum Trotz.

Moment, erst muss ich das Kind umlagern, sodass der Schalldruck möglichst fußbodenwärts geht. So, jetzt. Wo waren wir? Auf irgendwas wollte ich wahrscheinlich hinaus, kann mich aber nicht konzentrieren. Meine tapferen Trommelfelle knattern und flattern im frühkindlichen Gebrüll wie die losgerissenen Segel eines Seelenverkäufers im Taifun vor Sumatra. Und in den allzu kurzen Pausen, da das schrille Geschöpfchen neuen Atem schöpft, kündigt sich bereits glockenhell ein Tinnitus an. Gut, irgendwie muss sich so ein Bedürfnisbündel ja mitteilen. Aber worin besteht diese Mitteilung? Im bodenlosen Horror, überhaupt auf der Welt zu sein. Klar. Und darüber hinaus? Darüber hinaus will das Achtwöchige vielleicht einfach nur erreichen, dass ich endlich aufhöre mit dem Tippen. Hm. Einen Versuch ist es wert.

Text: „So come on, come on, come on, come on, come on / And cry, cry baby, cry baby, cry baby (Janis Joplin, „Cry Baby)

Musik: Stille.