RevolutionäreTypen

KOLLEKTIV Vor 50 Jahren nahm Ornette Coleman sein Free-Jazz-Album auf

John F. Kennedy war gerade zum Präsidenten gewählt worden und Miles Davis heiratete an jenem Mittwoch. Doch was am 21. Dezember 1960 im A & R-Studio in New York geschah, sollte die Musikgeschichte nachhaltig verändern. Der Atlantic-Produzent Nesuhi Ertegün hatte das Studio ab 20 Uhr für gut 16 Stunden reserviert, das Ergebnis jener Session erschien 1961 als sechste LP des afroamerikanischen Altsaxofonisten Ornette Coleman unter dem Titel „Free Jazz: A Collective Improvisation“.

Das Konzept erscheint aus heutiger Sicht relativ übersichtlich: acht Musiker, Bass, Schlagzeug und Trompete sind doppelt besetzt und jeweils dem rechten oder linken Kanal zugeordnet, ein paar dissonante Fanfaren und das längste Solo für den Bandleader. Lediglich die beiden Schlagzeuger Ed Blackwell und Billy Higgins müssen sich mit sehr kurzen Soli begnügen, das Coleman’sche Prinzip gibt dem Ensemble Raum, die Improvisatoren zu inspirieren und sich unaufgefordert einzubringen.

Aufgenommen wurden mindestens zwei Takes, die fast 40-minütige 2. Fassung nahm – damals noch völlig ungewöhnlich – den Platz der beiden LP-Seiten von „Free Jazz“ ein. Auf dem LP-Umschlag ist „The White Light“ von Jackson Pollock zu sehen. Die „Free Jazz“-Mitwirkenden Eric Dolphy, Don Cherry, Freddie Hubbard und Scott LaFaro zählen zu den großen Individualisten aus der zweiten Hälfte des ersten Jazz-Jahrhunderts, doch überlebt haben jene drogenintensive und kulturrevolutionäre Epoche lediglich Charlie Haden und Ornette Coleman. Rückblickend sagt der heute 80-jährige Klangerfinder, dass sein Leben damit zu tun habe, einer Minderheit anzugehören, und dass man arm war. Er habe sich nach totaler Gleichheit gesehnt und die für ihn beste Antwort darauf in der Kunst und besonders in der musikalischen Improvisation gefunden.

Auch aus Sicht des heute 73-jährigen Bassisten Charlie Haden ging es bei „Free Jazz“ um ein unstillbares, verzweifeltes Verlangen, etwas gänzlich Neues zu gestalten. Ornette und er hätten damals oft darüber gesprochen, dass der Musik so zu begegnen sei, als würde man sie gerade erst erfinden. Dabei gehe es um individuelle Entscheidungen und Zielsätze, um Musiker, die sich nicht mit dem Status quo abfinden wollen, die ständig auf der Suche nach neuen Wegen sind: eine Band revolutionärer Typen.

CHRISTIAN BROECKING