Was Sie über Sachsen-Anhalt wissen sollten: Im Land der Frühaufsteher

Sachsen-Anhalt ist ein künstliches Gebilde ohne eigene Identität, ein schrumpfendes Land mit verlassenen Straßen. Aber es gibt vor der Wahl auch Erfolgsgeschichten.

Magdeburg ist vom ICE-Verkehr weitgehend abgehängt. Der Landstrich wird wie eh und je als Transitstrecke genutzt. Bild: dpa

Am späten Freitagnachmittag herrscht auf dem Magdeburger Hauptbahnhof Hochbetrieb. Der Tunnel ist verstopft von Pendlern. Der Regionalzug aus Wittenberge mit Weiterfahrt nach Halle hat Verspätung und wird von Bahnsteig 4 auf Bahnsteig 2 umgeleitet. Es gibt keine Rolltreppen und keinen Fahrstuhl auf den ersten vier Bahnsteigen. Rollstuhlfahrer müssen 24 Stunden vorher ihren Reisewunsch anmelden, Reisende mit Kinderwagen oder Fahrrädern können zusehen, wie sie in zwei Minuten den Bahnsteig wechseln.

Vor 2016 wird sich das nicht ändern. Magdeburg hat für die Bahn keine Priorität, Proteste wie in Stuttgart sind nicht zu erwarten. Seit Eröffnung der Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin-Wolfsburg über Stendal 1998 ist Magdeburg vom ICE-Verkehr weitgehend abgehängt, wird der Landstrich wie eh und je als Transitstrecke genutzt. Augen zu und durch, bis man in Hannover ist oder in Berlin.

Magdeburg ist die Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt, aber gäbe es beispielsweise bei "Wer wird Millionär" oder Spiegel Online eine Multiple-Choice-Frage nach dem Namen der Hauptstadt von Sachsen-Anhalt, würden wohl, wenn Leipzig, Halle, Magdeburg und Chemnitz zur Wahl stünden, nur Eingeweihte die richtige Antwort ankreuzen. Falls die Befragten überhaupt wüssten, wo das zugehörige Bundesland liegt.

Sachsen-Anhalt ist als Bundesland ein künstliches Gebilde, künstlicher noch als Baden-Württemberg. Anders als die Thüringer, die mit der Abschaffung der Länder 1952 in der DDR immer Thüringer blieben, egal, ob sie aus den Bezirken Suhl, Erfurt oder Gera kamen, anders als die Sachsenm, die ihre Eigenarten nie ablegten, und die Mecklenburger, die stoisch an ihrer Herkunft festhielten, hätte sich in Magdeburg oder Halle, Merseburg oder Dessau niemand als Sachsen-Anhalter bezeichnet.

Die meisten meiner Generation wussten gar nicht, dass es ein Land dieses Namens überhaupt mal gab, wenn auch nur zwischen 1947 und 1952. Eigentlich waren wir Preußen, aber das galt als belastet, so nach institutioneller Gewalt bei gleichzeitiger großer Pünktlichkeit und als Wegbereiter des Faschismus.

"Otto ist tot"

Schriftstellerin ("Moskauer Eis") und Journalistin, verbrachte die ersten 18 Jahre ihres Lebens in Magdeburg und das 19. in Schönebeck/Elbe, ehe sie 1983 an den Ort ihrer Bestimmung, Berlin, zog. Im Sommer erscheint ihr Berlin-Roman "Walpurgistag".

Sachsen-Anhalt ist geteilt in exakt die beiden Teile, die vor der Wende die Bezirke Halle und Magdeburg bildeten. Halle orientiert sich nach Leipzig, also nach Sachsen, und Magdeburg nach Niedersachsen oder Berlin. Und so gibt es nicht wenige im Land, die es nicht als keine Katastrophe sehen würden, wenn die beiden Teile anderen Bundesländern zugeordnet werden würden oder Sachsen-Anhalt, wie es der SPD-Spitzenkandidat bei den Landtagswahlen, Jens Bullerjahn, vor ein paar Jahren vorgeschlagen hat, mit Thüringen und Sachsen zusammengelegt werden würde. Inzwischen ist er wieder davon abgekommen.

Man hat lange nach etwas Verbindendem gesucht, um das Image zu verbessern. Schließlich kam man auf den Spruch "Sachsen-Anhalt. Wir stehen früher auf", was dem Land, vor allem unter Langschläfern, viel Spott eingebracht hat und von vielen als bitterer Zynismus beklagt wurde, weil das Pendeln zu den Arbeitsplätzen in anderen Bundesländern ein frühes Aufstehen unumgänglich macht. Aber der Slogan hat sich festgesetzt im Kopf, im Gegensatz zu dem Bemühen Magdeburgs, sich mit einer sogenannten Dachmarkenkampagne zur Ottostadt, nach Otto dem Großen und Otto von Guericke, zu stilisieren. "Otto ist tot", hat jemand im Internet gepostet und ein Foto der toten Innenstadt nach 22 Uhr dazugestellt.

Nach fünfzehn Minuten und kurz hinter dem Weichbild Magdeburgs, hält der Zug in Schönebeck/Elbe. Der Bahnhof hat sich in den 29 Jahren, die ich hier nicht ausgestiegen bin, nicht groß verändert. Allerdings gibt es hier Fahrstühle.

Am Sonntag ist Wahl in Sachsen-Anhalt, aber in den Straßen der Innenstadt merkt man nicht viel davon. Nur an jeder vierten Laterne hängt ein Wahlplakat und das meiste sind Köpfe mit drei oder vier Großbuchstaben. Austauschbar. Es gibt kaum Aussagen zu einem möglichen Wahlprogramm. Es sind aber auch kaum Menschen auf der Straße, die durch die Plakate zu einer Entscheidung gebracht werden könnten. Die Geschäfte und Supermärkte sind leer. Nur im Club der Volkssolidarität wird nach Schlagern getanzt. Die älteren Herrschaften haben sich fein gemacht und die Rollatoren beiseite gestellt. Es sind viele Frauenpaare auf der Tanzfläche.

Schönebeck

Schönebeck ist keine Industriestadt mehr. Das Gummiwerk "John Scheer" mitten in der Stadt ist eine Ruinenlandschaft, die Gelände von Sprengstoffwerk, Chemiewerk, Traktorenwerk, Heizkesselwerk Brachlandschaften. Nur wenige Firmen haben gesundgeschrumpft überlebt oder sich neu angesiedelt. Sie benötigen nur noch wenige Arbeitskräfte. Dafür ist die Luft besser. In dem Plattenbauviertel, in dem ich in den achtziger Jahren mal ein Jahr verbrachte, sind die Fassaden einiger Häuser in allen Farben einer Palette bemalt, andere von fünf auf zwei bis drei Etagen zurückgebaut.

1989 wohnten noch 46.000 Menschen in Schönebeck, heute sind es 12.000 weniger. Diese fehlenden Menschen sind, wenn man aus dichter besiedelten Gegenden kommt, sofort spürbar. Nicht nur in Schönebeck. Auch in Magdeburg, Bernburg, Halle-Neustadt, Stendal oder Werben. Aber es gibt auch Erfolgsgeschichten. In Schönebeck ist es der Stadtteil Salzelmen mit dem ältesten Solebad Deutschlands. Im Gegensatz zur Mutterstadt hat Salzelmen nach der Wende eine Renaissance als Kurort erlebt und sieht heute in den frischrenovierten Ecken schöner aus als Baden-Baden oder Bad Nauheim.

Auf den Fotos, die ich 1983 gemacht habe, ist das Gradierwerk eingestürzt und zur Müllhalde umfunktioniert. Die Häuser der Innenstadt waren verwohnt oder vernagelt, die Kureinrichtungen grau und verfallen. Heute ist der Kurpark mit den alten Gebäuden und dem beeindruckenden Gradierwerk renoviert und im Kurpark wimmelt es am Sonntag trotz niedriger Temperaturen nur so von Leuten, die meisten jenseits der 60.

Schönebeck war 2010 eine von 19 IBA-Stadtumbau-Städten Sachsen-Anhalts, eine Initiative mit dem Titel "Weniger ist Zukunft", an der neben dem Land auch das Dessauer Bauhaus beteiligt war und die viel Lob erhielt, weil sie eben nicht einer oberflächlichen Imagepflege verpflichtet war, sondern sich den drängendsten Problemen stellte, dem demographischen Wandel und der anhaltenden Abwanderung. Es wurde nach innovativen Lösungen für die Gestaltung von schrumpfenden Städten gesucht. Auch Magdeburg, das heute nur noch 229.000 von einst 290.000 Einwohnern hat, hatte sich beteiligt. Ihr Thema: Leben an und mit der Elbe.

Wahl am Sonntag

Rückwärts fahre ich die zwanzig Kilometer von Schönebeck-Salzelmen mit dem Fahrrad nach Magdeburg. Wenn es etwas gibt, das den Landstrich seit der Wende attraktiver gemacht hat, dann ist es die Hinwendung zum Fluss. Als ich Kind war, war die Elbe eine stinkende Kloake, jetzt gibt es in Magdeburg ein kilometerlanges Band von Uferpromenaden auf beiden Seiten des Flusses, die vor allem am Wochenende rege genutzt werden. Der Weg führt entlang der sogenannten Perlenkette: Fermersleben, Salbke, Westerhüsen, aneinandergereihte alte Elbedörfer, die im 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung reich wurden.

Jetzt stehen hier selbst einst so begehrte Wohnhäuser aus den frühen dreißiger Jahren leer und da, wo bei Schichtwechsel tausende Leute durch die Werktore zur Schicht strömten, ist Stille. Die Fenster der ehemaligen Fabrikationshallen an der Hauptpforte des Thälmannwerkes hat man mit großformatigen Kinderzeichnungen zugehängt. Es riecht nach altem Holz, Öl und Eisenspänen, ein ganzes Industriezeitalter ist in dem Geruch enthalten, wie in dem Geschmack eines Proustschen Madeleines. 1997 habe ich für die taz über die Insolvenz des Thälmannwerkes berichtet. Heute liegt ein Teil des Geländes brach, auf einem anderen stapeln sich Windräder. Das sieht ein bisschen nach Zukunft aus.

Verhalten optimistisch macht auch, dass die NPD-Plakate hier von den Laternenmasten gefetzt sind. Im Südosten der Stadt hat die Partei besonders viel gehängt. In der Innenstadt ist sie mit einem Lautsprecherwagen herumgefahren und hat ihre Parolen durch die Straßen gebrüllt. Die Kandidaten sehen zum Teil aus wie aus einem schlechten Nazifilm, die Spitzenkandidaten allerdings haben sich in Anzüge gezwängt fürs Plakat. Die NPD möchte in die Mitte der Gesellschaft. Viele Magdeburger wissen bis heute noch nicht, was sie am Sonntag wählen wollen. Die Ernüchterung der letzten Jahre ist groß. Aber jeder, mit dem ich gesprochen habe, hofft, dass die NPD den Einzug in den Landtag verpasst.

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