Kolumne Geräusche: Lady Leierschwanz

Vom Luxus, ausnahmsweise mal keine Meinung zu haben.

In letzter Zeit muss ich häufig an den Leierschwanz denken. Normalerweise kreisen meine Gedanken mit planetarischer Gemächlichkeit um alles Mögliche. Ein scheuer Vogel, der aussieht wie ein gerupfter Pfau und sein Leben hüpfend auf dem Waldboden verbringt, gehörte bisher nicht dazu. Wo doch der Leierschwanz über die verblüffende Fähigkeit verfügt, jedes Geräusch, das er jemals gehört hat, mühelos und originalgetreu wiederzugeben.

Beim Spaziergang durch die australische Wildnis erklingt plötzlich eine Explosion, ein Presslufthammer, eine Gitarre, ein Kameraklicken, eine Motorsäge, ein Motor, ein Maschinengewehr oder irgendwas anderes Modernes, Technizistisches? Dann ist der Leierschwanz im Busch. Das Tonstudio mit Federn, sozusagen.

Dabei hätte ich eigentlich über Lady Gaga nachdenken müssen. Es finden nämlich gerade die 2. Internationalen Lady-Gaga-Festspiele statt, weil eben ihr zweites Album, "Born This Way", erschienen ist. Ein Musikjournalist, der sich nicht für Lady Gaga interessiert, ist wie ein Wirtschaftsjournalist, der mit dem Begriff Euro nichts anfangen kann. Umso peinlicher, dass mir zu Lady Gaga einfach nichts einfallen mag. Gar nichts. Dabei "verstehe" ich die Musik und das Phänomen der Lady Gaga durchaus, so wie ich, sagen wir, die Angaben über die Inhaltsstoffe auf meiner Duschgelflasche verstehe, das Klingeln eines Mobiltelefons, den Zweck einer Büroklammer oder den Sinn der bunten Aufkleber, die immer der Bravo beiliegen. Es ist nur so, dass ich ziemlich eingeschüchtert bin.

Denn ringsum in restlos allen Feuilletons der Republik sind die hydraulischen und gut geölten Exegese-Maschinen angeworfen worden, um dem postmodern-komplexen Megaphänomen populärsemiotisch, hermeneutisch, psychoanalytisch, strukturalistisch oder genderkritisch beizukommen. In der FAZ beispielsweise deliriert ein Kritiker über die vielen Klicks, die Gaga-Videos bei Youtube bekommen: "1,5 Milliarden: Man spricht diese Ziffer aus und hat ein Mantra für die Gesellschaft im Angesicht ihrer Entschlüsselung im Netz." Hat man das? Oder: "1,5 Milliarden, das sind nicht mehr irgendwelche Zielgruppen, irgendwelche Teenager, irgendwelche Fans. 1,5 Milliarden: Das sind wir." Sind wir das? Muss wohl: "Das Schicksal ist heute eine Idee aus Bits und Bytes und Lady Gaga seine Vestalin", die "anthropologische Konstanten mit Design zu ändern" versucht. Wow! Und ich dachte immer, Lady Gaga bestreicht einfach ihren Körper mit Klebstoff und rollt wahllos in irgendwelchen Gegenständen herum.

Beeindruckend auch die Kronzeugen für die Wichtigkeit der Lady Gaga, von Marcel Duchamps über Andy Warhol, Franz Kafka, Marshall McLuhan, Alexander McQueen, Klaus Nomi bis zu Rainer Maria Rilke. Ich finde, wir sollten alle häufiger an den Leierschwanz denken.

Text: "I assume you understand that we have options on your time / And will ditch you in the harbor if we must / But if it all works out nicely / Youll get the bonus you deserve / From doctors we trust" (Brian Eno)

Musik: Auf Youtube "Lyrebird imitating man" eingeben.

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