Das Grab seines Sohnes

VERMISST Scherali Asisow war Zeuge in einem deutschen Prozess und Häftling in Usbekistan. Dort saß er jahrelang im Gefängnis. Und jetzt soll er auf einmal tot sein? Die Suche eines Vaters

■  Chaitali Asisow: Der 73-jährige Usbeke lebt in Tadschikistan. Der Rentner hat früher als Fahrer gearbeitet. Seine Familie versucht von Landwirtschaft und Handel zu leben. Den jüngsten seiner vier Söhne, Scherali, hat Asisow lange gesucht – und im Gefängnis in Usbekistan gefunden. Jetzt soll der Sohn tot sein.

■  Scherali Asisow: war Häftling in Usbekistan, weil er einen Anschlag auf einen Bundeswehrstützpunkt in Termes geplant haben soll. 2008 war er Zeuge in einem Strafverfahren gegen die Sauerland-Gruppe, die Anschläge in Deutschland vorbereitet hatte. Scherali Asisow sagte aus, zwei der Angeklagten zu kennen – aus einem Ausbildungslager für Terroristen in Pakistan. Der Prozess endete am 4. März 2010, die Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren.

AUS ALMATY MARCUS BENSMANN

Manche Bitte ist Ausdruck völliger Ausweglosigkeit. Chaitali Asisow wurde gesagt, sein Sohn Scherali sei gestorben, weit weg im Gefängnis, in einem anderen Land, vor einem halben Jahr. Der 73-jährige Vater hat noch einen Wunsch, er will zum anonymen Grab mit der Nummer 195 96 107, sehen, ob darin die Leiche des Sohnes liegt, wissen, ob das Kind wirklich tot ist.

Dabei soll ihm Deutschland helfen, denn der Tod des Sohnes hat auch mit diesem Land zu tun. Die Bundesanwaltschaft hat Scherali Asisow in einem usbekischen Foltergefängnis vernommen, als Zeuge zur Vorbereitung des Sauerland-Prozesses.

Scherali Asisow wurde 1974 in Beskapa geboren, einem Dorf im südlichen Tadschikistan. Damals war das Land an der afghanischen Grenze noch eine Sowjetrepublik. Er heiratete, bekam eine Tochter. 2004 reiste er in den Iran, wollte den Koran studieren. Er meldete sich noch ein paar Mal per Telefon und Brief. Dann blieb er verschollen.

Erst 2009 bekam die besorgte Familie Nachricht. Scherali Asisow saß in Usbekistan im Gefängnis. Er wurde da 2006 verhaftet, weil er angeblich einen Anschlag auf einen Bundeswehrstützpunkt in Termes geplant haben soll. Deutschland nutzt den Flughafen dort für den Krieg in Afghanistan.

Usbekistan ist eine grausame Despotie. Der Präsident Islam Karimow verteidigt seine Macht mit Repression. Folter wird in dem Land nach UN-Angaben systematisch angewandt. Einen Aufstand in Andischan ließ Karimow 2005 mit Panzerwagen zusammenschießen.

Reise ins Gefängnis

Trotz der schweren Menschenrechtsverletzungen reisten 2008 erst das Bundeskriminalamt und dann die Bundesanwaltschaft in den usbekischen Unrechtsstaat, um den inhaftierten Asisow zu vernehmen.

Deutschland durchlebte gerade Terrorangst. 2007 wurde hier die sogenannte Sauerland-Gruppe, bestehend aus zwei deutschen Konvertiten und zwei in Deutschland aufgewachsenen Türken, verhaftet. Sie sollen nach einer Ausbildung in Lagern der Islamischen Dschihad-Union Anschläge in Deutschland geplant haben. Die Islamische Dschihad-Union – eine usbekische Terrorgruppe – soll auch zu al-Qaida Verbindungen haben.

Und Scherali Asisow hatte im usbekischen Foltergefängnis ausgesagt, zwei aus der deutschen Terrorgruppe in Ausbildungslagern der Islamischen Dschihad-Union erkannt zu haben. Trotz der erbärmlichen Menschenrechtslage in Usbekistan reiste die Bundesanwaltschaft zur Wahrheitsfindung ins dortige Gefängnis.

Als deutsche Medien über die Vernehmung informierten, erklärte die Bundesanwaltschaft, dass Scherali Asisow keine Auffälligkeiten gezeigt habe, „die auf eine Beeinflussung des Zeugen durch psychische oder physische Zwangsmittel hindeuten“. Scherali Asisows Familie erfuhr erst über die journalistische Recherche davon, dass der Sohn in Usbekistan gefangen war. Der Vater, ein schmächtiger Mann mit weißem Zottelbart, der mit der Familie in einem kleinen Gehöft mit Walnussbäumen wohnt, machte sich auf den Weg, seinen Sohn Scherali zu besuchen.

Das ist nicht einfach. Zwischen Tadschikistan und Usbekistan herrscht Visazwang, die Reise in den Nachbarstaat ist teuer, die Familie arm. Trotz aller Widrigkeiten gelang es dem Vater, seinen Sohn regelmäßig im Gefängnis zu besuchen. Allerdings nur alle sechs Monate. Einmal kam auch die Mutter mit.

Zuletzt besuchte der Vater den Sohn im Oktober 2010. „Scherali hat einen guten Eindruck gemacht“, meint der Vater, der jetzt erfuhr, dass man Scherali Asisow in ein anderes Gefängnis überführen wolle. „Vor dem Abschied fragte ich die Wärter, ob ich meinen Sohn umarmen dürfe.“ Es wurde ihm nicht gestattet. „Wir waren bei unseren Gesprächen immer durch eine Scheibe getrennt“, erzählt Vater Chaitali.

Es kamen der Winter und das Frühjahr, und der Vater machte sich wieder auf nach Buchara. Dort wurde ihm mitgeteilt, man habe den Sohn längst von Buchara in ein Gefängnis der usbekischen Stadt Sarafschan verlegt. Also reiste der Vater weiter, über 200 Kilometer Richtung Norden. Vor dem neuen Gefängnis in der neuen Stadt musste er Stunden warten, bis man ihn vorließ. Als er endlich zum Gefängnisdirektor bestellt wurde, erhielt er schlimme Nachrichten. Im November, 29 Tage nach der Überführung des Sohnes in das zweite Gefängnis, sei Scherali plötzlich erkrankt und gestorben. Herzinfarkt. Dem Vater zeigten die usbekischen Wächter das Grab, sie drückten ihm den Totenschein in die Hand und sagten, er solle verschwinden.

Natürliche Tode in usbekischen Knästen sind verdächtig. Verdächtig ist vor allem, wenn ein 35-jähriger Mann an Herzversagen stirbt. Auch den zwei Insassen, die 2002 in einem großen Bottich zu Tode gekocht wurden, beschieden usbekische Behörden erst eine natürliche Todesursache. Der damalige britische Botschafter in Taschkent, Craig Murray, und die amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hatten Fotos der entstellten Leichen veröffentlicht. Die auf solchen Totenscheinen notierte natürliche Todesursache ist dort oft nur eine Chiffre für den Foltertod.

Scherali Asisow wurde kurz vor dem Tod in ein anderes Gefängnis gebracht. Neulinge in usbekischen Gefängnissen erwartet meist ein grausames Aufnahmeritual von Wächtern und Mithäftlingen, die sogenannte Lomka. Wie bei einer solchen Prozedur verfahren wird, berichtete 2008 der damals inhaftierte usbekische Journalist Ulugbek Haidarow. Vor seinen Augen sei ein junger Mann zu Tode geprügelt worden. Dem Journalisten selbst wurden die Fußsohlen mit dem Schlagstock blutig geschlagen. Starb auch Scherali Asisow an den Folgen der „Lomka“? Sein Vater will an den Tod nicht glauben, auch von Folter will er nichts hören. Beim letzten Besuch im Oktober sei Scherali noch gesund gewesen, sagt er, „er hat nie über Herzschmerzen geklagt“.

Chaitali Asisow will Gewissheit. In Deutschland könnte man das mit elterlicher Trauer erklären. Aber das Grab liegt in Usbekistan, dort belügt der Staat die Menschen notorisch. Noch im April übergab die Familie der deutschen Botschaft in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe einen Brief mit der Bitte, Deutschland möge helfen, das Grab in Usbekistan zu öffnen. Die deutsche Botschaft habe der Familie zwei Wochen später telefonisch mitgeteilt, dass Deutschland nicht helfen könne, erzählt der Bruder von Scherali Asisow. „Deutschland hätte eine moralische Pflicht gehabt, sich nach der zwielichtigen Vernehmung Scherali Asisows in Usbekistan um dessen weitere Haftbedingungen zu sorgen“, sagt Rachel Denber von Human Rights Watch.

Kein Kommentar

Die Bundesanwaltschaft sieht das anders. „Angesichts der genannten Umstände bei der damaligen Befragung bestand für eine eigenständige Bitte an die deutsche Botschaft in Taschkent, die Haftbedingungen zu kontrollieren, keine Veranlassung“, schreiben die Juristen aus Karlsruhe und weisen kalt darauf hin, dass es sich bei Scherali Asisow nicht um einen deutschen Staatsangehörigen handelte. Das Auswärtige Amt bedauert wenigstens Asisows Tod. Ob die Vernehmung eines Gefangenen der Bundesanwaltschaft in Usbekistan nicht doch ein Fehler gewesen sei? Entscheidungen anderer Bundesbehörden würde man nicht kommentieren, antwortet das Auswärtige Amt.

Für den Sauerland-Prozess in Düsseldorf, der 2010 mit einem Schuldspruch zu Ende ging, benötigte die Bundesanwaltschaft die Aussagen des usbekischen Zeugen nicht. Die Angeklagten gestanden und erhielten langjährige Haftstrafen.

Chaitali Asisow und seine Familie hoffen weiter. Sie fordern keine rechtlichen Untersuchungen oder Aufklärungen. Sie fordern nur den Blick in das Grab.

Marcus Bensmann, 41, taz-Korrespondent in Zentralasien, hat 2009 eine Ganze Geschichte über Asisow geschrieben: taz.de/sohn