Ukrainischer Autor über sein Land: "Wir haben nur Krise, nichts anderes"

Verhaftungen, Spitzelei, Zensur: Sein Land ist in Verhältnisse zurückgekehrt, die man mit der Revolution hinter sich lassen wollte, sagt der ukrainische Juri Andruchowytsch.

Demonstrationsszene aus Kiew im Oktober 2011. Bild: reuters

taz: Herr Andruchowytsch, die ehemalige ukrainische Ministerpräsidentin und Revolutionsikone Julia Timoschenko kämpft dagegen an, dass sie wegen Amtsmissbrauchs für sieben Jahre ins Gefängnis muss. Bevor sie in die Politik ging, war sie eine erfolgreiche Oligarchin - säße sie in einem Rechtstaat nicht auch im Gefängnis?

Juri Andruchowytsch: Julia Timoschenko war Anfang der 90er Jahre Unternehmerin, da herrschte ein vollkommenes Chaos in der Ukraine. Sicher ist bei ihr nicht alles gemäß den Gesetzen gelaufen, aber andere Wege gab es damals überhaupt nicht. Wenn Sie also sagen, sie säße zu Recht im Gefängnis, dann müssten vor ihr 150 andere Unternehmer verurteilt werden, die auch in dieser Zeit zu Geld gekommen sind. Wo sind die denn? Den meisten geht es blendend.

Zum Beispiel?

Der Expräsident Leonid Kutschma ist inzwischen vollständig rehabilitiert. Von den Vorwürfen, er habe während seiner Amtszeit einen kritischen Journalisten ermorden lassen, ist nicht mehr die Rede. Wir sind zur Kutschma-Epoche zurückgekehrt, die wir doch mit der orangenen Revolution überwinden wollten.

Was ist von dieser Revolution von 2004 übrig geblieben?

Davon geblieben ist ein großer historischer Moment, den wir verloren haben. Ich hoffe, er kommt in Zukunft wieder, als Chance einer neuen Revolution. Allerdings fürchte ich, dass sie nicht so friedlich und schön wird wie die orangene Revolution.

ist Lyriker, Essayist und Romanautor. Geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk, dem früheren Stanislaw, ist er heute einer der bekanntesten Schriftsteller aus der Ukraine. Sein Roman "Perversion" von 1996 erschien vor kurzem auf Deutsch beim Suhrkamp Verlag.

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Julia Timoschenko: Die Frau mit dem Flechtzopf nervt die Oligarchenclique um den Expräsidenten Leonid Kutschma und seinen Ziehsohn Wiktor Janukowitsch schon lange: erst als Revolutionsheldin, dann als Regierungschefin. Wie das Ansehen aller Politiker hat auch ihres in der Bevölkerung gelitten - seit ihrem Prozess steigt ihre Popularität aber wieder.

Ihr Prozess: Vor zwei Wochen wurde Timoschenko wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Dagegen legten ihre Anwälte am Montag Berufung ein, wollen es auch vor europäischen Gerichten anfechten. Nun droht ihr eine neue Klage: Die Generalstaatsanwaltschaft teilte am Montag mit, Timoschenko werde verdächtigt, in den 90ern als Direktorin eines Energiekonzerns über 4 Millionen Euro veruntreut oder unterschlagen zu haben.

Wieso nicht?

Die heutigen Machthaber um Wiktor Janukowitsch tun alles, um die Brücken zur Opposition niederzubrennen. Sie sind die nächste Generation, sozusagen Kutschmas Kinder. Sie alle entstammen dem Donbass, dem stalinistisch geprägten Osten der Ukraine. Das bedeutet, sie sind in einer ganz bestimmten politischen Kultur - oder besser: einer Antikultur - groß geworden und pflegen sie.

Gibt es in der Ukraine heute noch demokratische Restbestände?

Nein. Der Gerichtsprozess gegen Timoschenko ist ja nur die bekannteste Geschichte. Im Grunde ist jeder Ukrainer, der sich im öffentlichen Raum bewegt, in Gefahr. Jeder kann von der Polizei misshandelt werden, das gibt es jeden Tag. Es ist eine Rückkehr zu Kutschma, mit dem Unterschied, dass alles noch brutaler ist als früher. Für ihn war es noch wichtig, was die westlichen Demokratien über ihn sagten. Für die heutigen Machthaber ist das völlig unwichtig.

Berichten die Medien darüber?

Das Fernsehen nicht, das kann nicht mehr frei berichten. Frei äußern können wir uns im Internet. Das funktioniert noch, wie in Russland. Natürlich gibt es auch die Erfahrung in China, wo man das Internet kontrolliert. Unsere Machthaber hätten das sehr gern.

Wie frei können Sie selbst sich noch äußern?

Ich publiziere jede Woche meine Feuilletons im Internet, dort werde ich nicht zensiert. Allerdings ist das eine Frage der Zeit. Im Moment sind die Machthaber noch mit denen beschäftigt, die sie unmittelbar stören, mit Oppositionspolitikern zum Beispiel. Wenn sie die erledigt haben, werden sie sich wohl den Schriftstellern und Intellektuellen zuwenden.

Während der Revolution von 2004 waren besonders viele Studenten auf der Straße. Wie ist heute die Stimmung an den Universitäten?

Das ist eine dramatische Situation. Die Universitäten verlieren ihre Autonomie. Im vorigen Jahr zum Beispiel verlangte die Staatssicherheit von den Rektoren der Universitäten, mit ihr zusammenzuarbeiten. Die Rektorate sollen den Geheimdiensten regelmäßig berichten, über die politische Aktivität von Studenten oder Mitarbeitern. Von allen Rektoren gab es nur einen einzigen, der die Zusammenarbeit verweigert und den Vorgang öffentlich gemacht hat. Das war der Rektor der Katholischen Universität von Lemberg.

Was ist mit ihm passiert?

Bis jetzt nichts. Die Universität ist nicht staatlich, das System hat also keine direkte Handhabe gegen ihm. Die Universität gilt als eine "Insel der Freiheit". Das hat allerdings einen Preis: Die Diplome dieser Universität sind in der Ukraine nicht offiziell anerkannt. Das reicht den Mächtigen, um die Universität zu marginalisieren.

Und seine Kollegen?

Tausende von Rektoren haben dieser Kollaboration einfach zugesagt. Dagegen gibt es nur ganz wenige Proteste an den Universitäten, da kommen vielleicht dreißig, vierzig Leute. Eine wirkliche Studentenbewegung gibt es nicht.

Warum nicht?

Weil die Studenten, so wie die ganze Gesellschaft übrigens, überhaupt nicht reif ist für neue Proteste. Die Leute sehen darin keinen Sinn und kein Ziel.

Der Misserfolg der orangenen Revolution verhindert weiteren Widerstand?

Natürlich. Außerdem gibt es auch keine Figur, hinter der sich die zerstrittene Opposition versammeln könnte. Das ist eine sehr tiefe, vernichtende Krise der Politik und der Gesellschaft. Auf dieser Welle schwimmt die jetzige Macht.

Welche Rolle können die Inhaftierten spielen, etwa Julia Timoschenko?

Die können den Herrschenden natürlich gefährlich werden. Würde Timoschenko freikommen, würde sie die Präsidentschaftswahlen bestimmt gewinnen. Wahrscheinlich wird es sowieso keine freien Wahlen geben. Auch deshalb, weil der jetzige Präsident Wiktor Janukowitsch sehr unbeliebt ist. Er ist ökonomisch erfolglos, die Leute sind viel ärmer als früher. Die Bevölkerung ist unzufrieden mit den Machthabern, zugleich sieht sie keine politische Alternative. Der heutige Zustand der Ukraine ist von Klagen und Warten geprägt.

Das Land ist von der Finanzkrise sehr betroffen. Gibt es so etwas wie die Occupy-Bewegung auch in Kiew?

Nein! Hätten wir mal solche Probleme! Dann wären wir glücklich. Allen ist doch klar: Selbst wenn die Krise Europa voll erwischt, dann ist dort doch alles besser als bei uns. Wir haben nämlich nur die Krise, nichts anderes.

Und die Revolutionen im arabischen Raum, wie werden die in der Ukraine diskutiert?

Gar nicht weiter. Letztlich sind wir ein provinzielles Land. Wir denken nicht in globalen Kategorien. Wir sehen jeden Tag, wie Polizeispitzel Leute verhaften, wie Leute unter mysteriösen Umständen verschwinden oder wie die Polizei Tränengas gegen Demonstranten einsetzt. Solche Nachrichten verengen den Blick auf unser eigenes Land. Wir haben genüg über die Ukraine zu diskutierten.

Welche Rolle spielt die EU noch in der Ukraine?

Die Machthaber haben ihr Geld auf westlichen Konten, die vertrauen unseren oder den russischen Banken nicht. Außerdem besitzen sie in Europa Immobilien, in Baden-Baden gibt es ganze Straßenzüge, die ukrainisch sind. Sie haben also in Europa was zu verlieren. Und sie sind schlau. Sie wollen Europäer sein und zugleich ihr eigenes Land als eine autarke Despotie halten. Wissen Sie, welches europäische Land am meisten Geld in die Ukraine investiert?

Russland wahrscheinlich.

Nein! Es ist Zypern. Weil dort die Steuern niedrig sind, haben viele Oligarchen ihr Geld in Schattenfirmen in Zypern angelegt und investieren von dort hier bei uns. Ohne Steuern abzuführen, natürlich.

Agiert die EU denn klug im Umgang mit Kiew?

Die müssen so eine Rolle von guten Freunden spielen, weil die Ukraine sicherheitspolitisch wichtig ist. Das kann die EU nicht einfach aufgeben. Das bietet jeder ukrainischen Regierung die Möglichkeit, zu spielen: Wird der Druck aus Brüssel zu stark, macht sie eine Verbeugung in Richtung Moskau. Und umgekehrt. Das ist ein unendliches Spiel.

Und wie geht es jetzt weiter in der Ukraine?

Wir haben zwei Perspektiven in dem Land: Entweder wird die jetzige Situation für lange Zeit konserviert. Dann haben wir neben Russland und Weißrussland ein weiteres autoritäres System in Europa, antieuropäisch und antiwestlich. Die andere Perspektive ist eine neue Regierung. Durch friedliche Wahlen werden wir die nicht bekommen. Die jetzigen Machthaber werden freie Wahlen verhindern, wir kennen das von 2004. Und das bedeutet dann eine brutale Revolution mit Blut und Gewalt. Beide Perspektiven sind fürchterlich.

Wie real ist eine blutige Revolte?

Ich sehe sie als real an, aber sie kommt nicht heute oder morgen.

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