MITARBEIT BEATE SEEL, PETER BÖHM, JANNIS HAGMANN, GABRIELA M. KELLER

„Ich spüre die Diktatur bei jedem Schritt“

SYRIEN Ritta leidet unter den Spitzeln des Regimes. Sie möchte frei studieren können

■ Frauenwahlrecht: seit 1949, seit 1972 volles Wahlrecht

■ Verfassung: „gleiche Rechte und Möglichkeiten“ für alle Bürger

■ Rechtslage: Die Weitergabe der Staatsangehörigkeit der Frau an die Kinder ist nicht möglich. Diskriminierungen finden sich auch im Erbrecht oder beim Eheschluss. Hier muss der männliche Vormund der Braut nicht nur zustimmen, sondern unterschreibt den Ehevertrag auch allein. Auch im Strafrecht finden sich diskriminierende Vorschriften. Die Mindeststrafe für Ehrenmörder beträgt nur zwei Jahre. Bis 2009 galt Straffreiheit.

■ Ökonomisch aktiv: 29,2 Prozent der Frauen

■ Arbeitslosigkeit: 8,3 Prozent; 15- bis 24-Jährige: 49,1 Prozent (Frauen), 13,1 Prozent (Männer)

■ AnalphabetInnen: 25,8 Prozent (Frauen), 9 Prozent (Männer)

Ich will frei sein, in jedem Aspekt meines Lebens. So, wie es bisher war, kann es nicht weitergehen. Es ist nicht nur, dass wir unsere Regierung nicht frei wählen dürfen, wir dürfen überhaupt keine Entscheidungen treffen. Wir haben nicht einmal das Recht, Erwartungen oder Hoffnungen zu haben. Ich spüre die Diktatur bei jedem Schritt, an jedem Tag, zum Beispiel an der Universität. Als ich mit dem Master-Studium angefangen habe, hieß es, wir können uns fünf von acht Seminaren aussuchen. Später haben wir festgestellt, dass niemand die Seminare bekam, für die er sich eingeschrieben hatte. Wir haben uns bei der Hochschulleitung beschwert, doch man hat uns nicht einmal geantwortet. So läuft es in Syrien in allen Bereichen.

Die Diktatur hat das gesamte System durchsetzt. Deswegen muss sich alles ändern, alle Regierungseinrichtungen, alle staatlichen Organisationen müssen vollständig erneuert werden. Meine Kommilitonen und ich, wir können nicht vernünftig studieren, weil das Bildungssystem so schlecht ist.

Das miserable Niveau der Uni liegt an der Korruption. Die Stellen werden nicht mit Lehrkräften besetzt, die qualifiziert wären, sondern mit denen, die als regimetreu gelten. Uns ist ohnehin klar, dass wir auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. Keiner, den ich kenne, hat nach der Uni eine Stelle gefunden, und wenn, dann für ein Gehalt von unter 200 US-Dollar im Monat. Gute Aussichten haben nur diejenigen, die Teil des Regimes sind. Ich persönlich brauche es gar nicht erst zu versuchen, denn ich komme aus einer bekannten oppositionellen Familie.

Der Alltag in Syrien ist ein regelrechter Kampf. Immer hat man das Gefühl, beobachtet zu werden. Man schaut sich ständig um, nach vorn und nach hinten, fragt sich: Ist dieser da ein Spitzel? Arbeitet der da drüben für den Geheimdienst? Das bringt einen dazu, alle Menschen zu hassen, weil man niemandem trauen kann, nicht einmal Freunden oder Geschwistern.

Seit dem Beginn der Proteste arbeite ich als demokratische Aktivistin. Ich sammle Informationen und leite das Material an internationale Medien und Menschenrechtsorganisationen weiter. Ich helfe auch, die Proteste in meinem Heimatort zu koordinieren. Zur Universität gehe ich nicht mehr. Es gibt so viel zu tun, dass dafür keine Zeit bleibt. Außerdem könnte ich auf dem Weg an einem Checkpoint angehalten und verhaftet werden.

Natürlich habe ich Angst. Jeden Tag lösche ich alles auf meinem Mobiltelefon und meinem Laptop. Ich gehe nie ins Bett, ohne meinen Laptop zu verstecken. Ich mache mir Sorgen, dass die Sicherheitskräfte nachts kommen und und die Sachen konfiszieren. Viele meiner Freunde sind bereits verhaftet worden.

Trotzdem sind wir alle optimistisch. Bei den Protesten geht es zu wie auf einer Hochzeit. Die Menschen tanzen auf der Straße. Sie wollen ihre Angst besiegen, deswegen singen sie laut. Unter den Schüssen sind wir alle vereint. Wir greifen einander an den Händen, spüren, dass wir zusammenstehen, und begegnen der Gefahr. Es fühlt sich so an, als wären wir jetzt schon frei, so als gehöre uns die Welt.

Ritta, 24, engagiert sich für den politischen Wandel in Syrien. Ihr richtiger Name muss deshalb hier verschwiegen werden, um sie zu schützen