ALTER MEISTER
: Die zahlende Dame

Was sehen wir? Eine Frau Mitte fünfzig kauft ein. Sie steht an der Kasse eines neonlichtdurchfluteten Supermarkts und sortiert ihre Waren in Plastetüten. Den Porree hat sie bereits verstaut

Konzentriert schaut sie in ihre Börse. Reicht das Bargeld? Hat sie es passend? Der Betrachter erfährt es nicht. Und wird es wohl nie erfahren. Denn „Die zahlende Dame“, ein gerade erst vollendetes Werk des Berliner Handyfotokünstlers Kay M., löst die Situation nicht auf. Gut möglich, dass die Bundeskanzlerin eine Kreditkarte zieht. Ganz denkbar, sie richtet ein paar Worte an die Kassiererin: „Die Paprika gibt’s heute Abend zur Stulle“ – derlei. Viel Raum für Gedanken und Assoziationen lässt das Bild, die Kanzlerin im privaten Kontext betreffend.

Betrachten wir die Situation genauer. Was sehen wir? Eine Frau Mitte fünfzig kauft ein. Sie steht an der Kasse eines neonlichtdurchfluteten Supermarkts und sortiert ihre Waren in Plastetüten. Den Porree hat sie bereits verstaut, Paprika und Äpfel werden in dieser Sekunde von der links abgebildeten Kassiererin abgewogen.

Man sieht, der vollwertige, der vernünftige Teil des Einkaufs ist vollbracht. Was noch auf dem Laufband wartet, ist an Sinnbildlichkeit kaum zu übertreffen. Die Weißweinflasche, vermutlich französischer Herkunft, symbolisiert die enger und enger werdenden Verbindungen zum Europa-Musterschüler Frankreich. Die Oliven? Keine Frage, eine ironische Anspielung auf das Sorgenkind Griechenland; vermutlich hat die Kundin jene „mit Stein“ gegriffen. Dahinter, halb verdeckt, lugt ein Glas Grünkohl hervor – ein deutsches Gemüse von hohem Symbolwert. Die Trinität der wichtigsten europäischen Politikfelder ist damit wunderbar umrissen.

Bleibt die Verbindung der dargestellten Personen zueinander. Beide Frauen halten ihre Augen gesenkt. Nicht einmal auf der Ware begegnen sich ihre Blickachsen. Warum hat der Künstler ausgerechnet diesen Moment festgehalten?

Die Kanzlerin weicht körpersprachlich der Ansprache ihrer Mitfrau aus. Und jene – man ahnt es – hat wirklich Besseres zu tun, als an einem Berliner Freitagabend der Regierungschefin Respekt zu zollen. Den Zeitdruck, den diese Arbeitnehmerin spürt, hat der Künstler durch wartende Kundinnen hinter dem Merkel’schen Rücken versinnbildlicht. Eine persönliche Verbindung zwischen Regierender und Regierter schließt das aus.

„Die zahlende Dame“, mit bis zu 500 Euro bereits vom Springer Verlag honoriert, steht auf eindrucksvolle Weise für die Situation des alten Europa. Es geht um Geld und Vernunft, um Gesundheit und Völlerei, um Arbeitsbeziehungen in der Euro-Zone: fast könnte man meinen, es sei zufällig entstanden. AM