Gladbacher Rebellen

RELIGIONSFRIEDEN Ein methodistischer Laienprediger entdeckt seine Liebe zu den Aleviten – und verkauft ihnen gegen alle Konventionen sogar eine Kirche. Geschichte einer Annäherung

Sie tauschen das Kreuz gegen drei manns- hohe Bilder ihrer Heiligen aus. Ansonsten bleibt das Haus so schlicht wie zuvor, von Pracht keine Spur

AUS MÖNCHENGLADBACH ANNE MEYER

Herr Solmaz blickt freundlich, aber ratlos über den Rand seiner Teetasse. Was hat er sich, was hat seine Gemeinde sich da nur eingehandelt? Feramuz Solmaz ist der „Dede“, das geistliche Oberhaupt der alevitischen Gemeinde in Mönchengladbach. Mit zwölf Männern und Frauen sitzt er bei Tee und Gebäck zusammen, es könnte ein ganz normales Treffen sein, so wie Gemeindemitglieder nun einmal gern beisammen sind und plauschen. In Mönchengladbach ist aber nichts mehr normal, und das liegt an Dr. Klaus Thimm, Physiker und evangelisch-methodistischer Laienprediger, der ebenfalls an der Kaffeetafel sitzt und sachte einen Teigkringel mit der Gabel zerteilt.

Wo Thimm heute seine türkische Süßspeise verzehrt, hat er vor drei Jahren noch von Jesus Christus gepredigt. In der Kreuzkirche der evangelisch-methodistischen Gemeinde wachte er als Laienprediger über seine Schäfchen. Die Schäfchen wurden aber immer weniger, so wenig, dass die Methodisten ihre Gemeinde in Rheydt, Mönchengladbach, im Jahr 2009 ganz aufgeben mussten. Die baufällige Kreuzkirche aber, die nach dem Krieg mit spärlichsten Mitteln wieder aufgebaut worden war und einem Verwaltungsamt seither ähnlicher ist als einem Sakralbau, wollte keiner kaufen. „Bis mir meine Freunde von den Aleviten in den Sinn gekommen sind“, sagt Thimm. Dass es einen Konsens unter den christlichen Kirchen Deutschlands gibt, keine Gotteshäuser an nichtchristliche Glaubensgemeinschaften zu verkaufen, ignoriert er fröhlich.

Thimm setzt sich beim Bischof für die Aleviten ein. Schließlich hat er Erfolg: Die alevitischen Gemeindemitglieder kaufen die Kirche für 72.500 Euro und sanieren sie in ihrer Freizeit selbst. Sie tauschen das Kreuz geben drei mannshohe Bilder ihrer Heiligen aus, den Haci Bektas Veli, den Propheten Ali und Pir Sultan Abdal. Ansonsten bleibt das Haus an der Scharmannstraße so schlicht wie zuvor, von orientalischer Pracht keine Spur. Im Juni 2012 können sie schließlich ihren Gebetsraum einweihen und laden zu diesem Zweck den Gladbacher Oberbürgermeister und die vormaligen Besitzer zu einer Feierstunde ein. Auch ein Journalist sitzt im Publikum. Erstmals, schreibt er, habe eine christliche Gemeinde ihr Gotteshaus an die Muslime verkauft. Ein Tabubruch!

Eine „harte Zumutung“

Seither sind die Herren Thimm und Solmaz in Erklärungsnot. Als „harte Zumutung“ bezeichnet der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke, zuständig für interreligiösen Dialog, die Gladbacher Lösung. „Wir als katholische Christen könnten das mit Sicherheit nicht akzeptieren.“ Auch die Evangelische Kirche Deutschlands vertritt einen klaren Standpunkt: Der Verkauf einer Kirche an eine nichtchristliche Gemeinschaft sei „nicht möglich“, heißt es etwa beim Zentrum für Ökumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Nur beim Judentum mache man Ausnahmen.

Ihren Tee muss die alevitische Gemeinde nun Sonntag für Sonntag mit Journalisten einnehmen. Klaus Thimm, 77, ist fast immer dabei. „Die Aleviten sind ja sehr froh, wenn ich für sie spreche und gewisse Zusammenhänge erkläre“, sagt er und lächelt. Der Laienprediger trägt ein schwarz-weiß kariertes Jackett zur schwarz-lila karierten Hose. Auch die Socken sind kariert, die Krawatte dafür diagonal gestreift. Der freundliche alte Herr lächelt immerzu. Feramuz Solmaz lächelt etwas schmaler als sein Freund von den Methodisten. Er zeigt auf einen Zeitungsausschnitt. „Kirche wird Moschee“, heißt es da. Der Dede blickt bekümmert. „Natürlich ist das hier keine Moschee“, sagt er und erklärt, dass die Aleviten eben nicht zum Islam gehören, sondern von den sunnitischen Muslimen in der Türkei gelinde gesagt nicht gerade als religiöse Minderheit respektiert werden.

Solmaz selbst zum Beispiel, ein schmaler, rastlos wirkender Mann mit strahlend weißen Haaren, wuchs in Ankara auf und wurde dort, wie er berichtet, von einem Mob halb totgeschlagen, als er sich während des Ramadans beim Rauchen erwischen ließ. Für Aleviten hat der Ramadan keine Bedeutung. 17 Jahre alt war er da. Solmaz führt feierlich durch das neue Heim der Gemeinde. Die korrekte Bezeichnung lautet Cem-Haus, benannt nach den rituellen Gottesdiensten. Tatsächlich handelt es sich eher um ein Kulturzentrum, in dem sich die Gemeinde zum Tee trifft, wo es Musikunterricht und Lesungen gibt. Gebetet wird nur ein bis zweimal im Jahr. Obwohl Aleviten mit etwa 500.000 Mitgliedern nach Katholiken, Protestanten und Sunniten die viertgrößte Glaubensgemeinschaft hierzulande darstellen, ist kaum etwas über ihre religiösen Gepflogenheiten bekannt. Was wohl auch damit zu tun hat, dass sie ihre Religion aus Angst vor Repression traditionell eher im Verborgenen ausüben.

Ob sie nun zum Islam gehören oder nicht, ist auch unter Aleviten umstritten. Tatsache ist aber, dass sie mit dem sunnitischen Islam ungefähr so viel zu tun haben wie Protestanten mit Karneval. Sie fühlen sich nicht an die Scharia gebunden, der Koran spielt für sie nur eine untergeordnete Rolle. Gottesliebe steht bei ihnen vor Gottesfurcht, auch wird ihnen große Toleranz gegenüber Andersgläubigen zugeschrieben. Mann und Frau sind gleichberechtigt; beide können als Dede beziehungsweise Nana die Gebete anleiten, also sozusagen Priesterfunktion einnehmen. Sunniten hätte er das Kirchengebäude nicht anvertraut, sagt Thimm, aber hinter den Aleviten stehe er hundertprozentig. Er hat seinen Tee ausgetrunken.

Akt der Selbstbehauptung

Er zählt Gemeinsamkeiten auf, die er bei Aleviten und seiner Freikirche entdeckt hat. „Für die Katholiken ist die Kirche, also der Raum als solcher, heilig. Für uns entsteht Heiligkeit aber allein durch die Anwesenheit der Gemeinde. Bei den Aleviten ist das nicht anders“, sagt er. Thimms Kampf für die Aleviten ist ganz offensichtlich auch ein Akt der Selbstbehauptung.

Früher, erzählt er, gehörte er einer „strengen evangelisch-reformierten Gemeinde“ an. Er engagierte sich mit ganzem Herzen für seine Kirche – und stand doch eines Tages geradezu als Sünder da. Als Physiker entwickelte er technische Instrumente für die Strahlenmessung. Kernkraft, auch dafür arbeitete er aus voller Überzeugung. 1987, ein Jahr nach Tschernobyl, machte auch die Evangelische Kirche ihren Standpunkt zum Thema klar: Diese Form der Energieerzeugung sei unvereinbar „mit dem biblischen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren“. Die evangelisch-methodistische Kirche hingegen hatte kein Problem mit seinem Beruf, heute ist er im Ruhestand. Sehr bald nach seinem Übertritt legt Thimm die Prüfung zum Laienprediger ab.

Die Kirchenumwidmung kann da schnell wie der späte Triumph eines Enttäuschten wirken, doch Thimm beeilt sich zu versichern, dass er keinerlei Ressentiments mehr gegen seine alte Kirche hege. „Wir feiern hier in Mönchengladbach den perfekten interreligiösen Dialog!“, sagt er.