Baden, als wäre nichts

IMMER WEITER (1) Auf dem Weg nach Kirgistan: Überall in der Ukraine wird demonstriert. Für Julia Timoschenko, gegen Homosexualität. Und Rechenschieber mit Holzperlen dienen als Kasse

Bürotürme mit getönten Scheiben stehen Wand an Wand mit Palästen aus der Zarenzeit

Das müssen sie sein. Drei Frauen in strassbesetzten Nicki-Pullovern und mit rosa Stirnbändern in den blond gefärbten Haaren mustern uns aus den Tiefen ihres Ladas. Das Auto hängt vorne und hinten über, es war mal weiß. Wir mustern zurück. Die Frauen könnten zu den sogenannten Schmugglerinnen der Armut gehören. Der Zoll drückt die Augen zu, wenn sie Schnaps und Zigaretten aus der Ukraine in die EU befördern und dann mit Elektrogeräten und Medikamenten zurückkommen.

Auch uns winkt man durch. Unser Sprinter ist eine Spende für das Sozialdorf Manas in Kirgistan. Auf den Autotüren klebt in Hellgrün der Beweis, auch in kyrillischen Buchstaben. Polen haben wir schon hinter uns, es fehlen die Ukraine, ein Stück Russland, die kasachische Wüste und der Tienschan, das kirgisische Hochgebirge. Die Anwesenheit Taalay Ismailbekovs, eines 23-jährigen Mitarbeiters von Manas, ist sehr praktisch. Er kann nämlich Russisch.

Keine 50 Meter hinter der ukrainischen Grenze überholen wir das erste Pferdefuhrwerk. Großmütter unter geblümten Kopftüchern führen einzelne Kühe spazieren, Familien laden Heu auf Holzkarren, vor den Pflügen stapfen Ochsen durch die schwarze Erde. Das Land sieht aus wie die ukrainische Flagge: weite gelbe Felder voller Getreide oder Sonnenblumen, darüber der blaue Himmel.

Aber es ist das Land, in dem die Femen-Aktivistinnen ihre nackten Brüste für Frauenrechte einsetzen. Das Land, aus dem auch Julia Timoschenko kommt. Das sieht man an den geflochtenen Zöpfen der Mädchen. Und an den vielen Demos. In L’viv, Lemberg, haben sich einige Nonnen im Halbkreis aufgebaut und singen durch einen Lautsprecher gegen die regierende Partei der Regionen an. Sie protestieren gegen Kinderraub und Pädophilie. Und im gleichen Atemzug auch gegen Homosexualität.

Mit europäischen Maßstäben lassen sich hier nur die Straßen messen. Zumindest bis Kiew, dank der Fußball-Europameisterschaft. Die Ukrainer tragen zwar Trikots aus der halben Welt, von der EM in ihrem Land haben sie allerdings kaum etwas gesehen. Die Spiele wurden auf Pay-TV übertragen, das auf den Dörfern niemand empfängt. Vlad, Viktoria und Pawel erzählen, dass sie nicht einmal im Internet einen ukrainischen Livestream gefunden haben. Immerhin haben sie Internet – keine Selbstverständlichkeit in der ländlichen Ukraine. Statt Kassen gibt es hier oft noch Rechenschieber mit Holzperlen.

In Kiew führt uns das Navi zum neuen Stadion. Die sechsspurigen Boulevards in der Innenstadt sehen aus wie der Ku’damm. Im Gegensatz zum analogen Landleben gibt es hier Wi-Fi in jedem Café. In schwarz glänzenden Jeeps warten die Chauffeure auf Fräuleins in Highheels. Sogar der Dnjepr ist touristisch erschlossen: Mit einer Seilbahn kann man sich einen halben Kilometer weit über das Wasser schwingen und den Blick auf die Skyline der „Mutter aller russischen Städte“ genießen. Bürotürme mit getönten Scheiben stehen Wand an Wand mit Palästen aus der Zarenzeit, die wie auf Keksdosen gemalt wirken.

Die Kiewer baden, als wäre nichts. Dabei kommt das Wasser des Dnjepr direkt aus dem verstrahlten Gebiet um Tschernobyl, 100 Kilometer weiter nördlich. Der Reaktor ist im Umkreis von 30 Kilometern durch Stacheldraht von der restlichen Ukraine getrennt. „Todeszone“ steht auf Russisch auf den Schildern. Und „Danger“. Sollten wir uns einen Geigerzähler besorgen? Da begrüßen uns schon die Zonenpolizisten mit Handschlag. Und beruhigen uns: Die Pilze innerhalb der Zone solle man auf keinen Fall essen. Aber außerhalb des Zauns sei das kein Problem.

CATARINA VON WEDEMEYER

■ Catarina von Wedemeyer bringt im August zusammen mit drei anderen jungen Leuten einen Sprinter, der mit Spenden erworben wurde, zu einem kirgisischen Sozialprojekt, 7.000 Kilometer weit