Krise Krankheit Widerstand

Die aktuelle Finanzkrise macht den Alltag unerträglicher – für alle

VON ARIANE BRENSSELL

Schlagzeilen wie „Ausgebrannt“, „Das überforderte Ich“, „Der gestresste Mensch“ haben in Zeitungen und Zeitschriften Hochkonjunktur. „Mach doch mal Pause“, „Endlich Schluss mit dem Burn-out-Gejammer“, „Ein Schleuder-Trauma des Geistes“.

Neben Tipps zur Krisenbewältigung und Kliniklisten kommen in den Artikeln auch Zeitdiagnosen zur Sprache: Leistungsdruck und Flexibilisierung, Mobilitätsanforderungen und „Rund-um-die Uhr-Erreichbarkeit“ stehen für all die Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsverhältnissen, die zu enormen Anforderungen, Zumutungen und Unsicherheiten führen. Allerdings werden Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen dabei wie etwas Abstraktes behandelt, das den individuellen Leidensberichten unverbunden gegenübersteht. Robert Enke, Miriam Meckel, Sebastian Deisler – Depression? Burn-out? – alles nur ihr Problem.

Auch in den politischen Debatten wird wenig nach dem Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Veränderungen und dem subjektiven alltäglichen Erleben und Leiden gefragt. Und das, trotz der berühmten Thesen des Soziologen Alain Ehrenberg zum „Erschöpften Mensch“, der Depressionen als eine Entsprechung der aktuellen Gesellschaft sieht, er nennt sie eine Krankheit der Verantwortlichkeit: Wir sind für alles selbst verantwortlich, ohne jedoch über die Bedingungen bestimmen zu können. Untersuchungen zur Frage „Macht die Gesellschaft depressiv?“ bestätigen die Zusammenhänge zwischen der Zunahme der persönlichen Krisen und dem „neuen gesellschaftlichen Normalzustand“.[1]

Depressionen – eine Unterform ist das Burn-out – sind psychiatrische Diagnosen. Dahinter stehen krisenhafte Gefühle des Verlustes, der Trauer, der Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung und der Ohnmacht – die, so die Analyse von Ehrenberg – sich heute aus der alltäglichen Normalität speisen. Ordnet man diese Gefühle jedoch in der psychiatrischen Klassifikation ein, wird implizit ein gesellschaftlicher Normalzustand aufrechterhalten, indem man – dank Pathologisierung – aus alltäglichen Widersprüchen und individuellem Unbehagen eben Depressionen macht. Depressionen können losgelöst von einem Blick auf eine krank machende gesellschaftliche Realität behandelt werden. Das Unbehagen an der Gesellschaft wird zu einer Sache der Medizin und Psychiatrie. Krank werden bleibt etwas Privates.

Die Krankenkassen liefern hierzu Zahlen: Die Zunahme der Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychiatrischer Erkrankungen stieg in den letzten zehn Jahren um 42 Prozent bei Männern und um 63 Prozent bei Frauen. Die Verordnungen von Psychopharmaka haben sich bei beschäftigten Frauen zwischen 2004 und 2007 verdoppelt, bei Männern haben sie um 43 Prozent zugenommen. Jeder siebte Arbeitslose bekommt Psychopharmaka.[2]Eine (mentale) Exkursion nach Griechenland zeigt, dass sich dieses Wachstum noch beschleunigen kann: Hier stieg die Vergabe von Antidepressiva seit Beginn der Finanzkrise um 40 Prozent.[3]

Die neoliberale Schock-Strategie der Finanzkrise

Aus der Krise der Banken eine Finanzkrise und daraus eine Staatsschuldenkrise und eine Generationsfrage zu machen, ist ein Coup, der aus Reichen noch Reichere und aus Armen noch Ärmere macht. Die Schere geht immer weiter auf, nicht zwischen den Generationen, sondern zwischen denen mit Geld und Perspektive und denen ohne. Staatliches Handeln indes müsste das Gegenteil befördern, wenn Gemeinwohl das Ziel wäre. „Gleichheit ist Glück“ heißt die deutsche Übersetzung einer Studie der Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett.[4]Sie zeigen, dass in Gesellschaften mit zunehmender Einkommensungleichheit auch die psychosozialen Probleme zunehmen. Das umfasst Krankheiten wie Adipositas, psychische Erkrankungen, die Anzahl der Morde, den „Drogenkonsum“, aber auch Kindersterblichkeiten und Teenagerschwangerschaften.

Die Studie basiert auf offiziellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO und anderer internationalen Organisationen. Kate Pickett sagte hierzu in einem Interview in der taz: „Wir haben uns angeschaut, wie sich die Einkommensverteilung in 21 reichen Industrieländern auf diese Probleme auswirkt. Und wir haben herausgefunden, dass Länder, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich gering ist, durchweg besser abschneiden. In den Ländern, in denen die Einkommensunterschiede groß sind, gibt es dagegen durchweg mehr Gewalt, mehr Gefängnisinsassen, mehr Teenagerschwangerschaften, schlechtere Schulabschlüsse, weniger soziale Mobilität. Die gesundheitlichen und sozialen Probleme sind größer.“

Diese Erkenntnisse sollten die Debatte verändern, so das Ziel der AutorInnen, indem sie deutlich machen: Ungleichheit erodiert die Gesellschaften. Die Studie hat Alt-Geahntes neu belegen können. Erstens: Es ist für alle – auch für Reiche – schlechter, in ungleichen Gesellschaften zu leben. Zweitens: Einkommensungleichheit wirkt sich auf Probleme im Alltag aus. Dafür, so die Autorin, gab es bisher keine wissenschaftlichen Belege. Die AutorInnen haben auch Erklärungsansätze: In ungleichen Gesellschaften müssen alle um den Erhalt ihres Status kämpfen, auch die Angst um Statusverlust trifft alle, das verursacht dauerhaften Stress und der wiederum schürt die Spirale des Gegeneinanders, der Gewalt, des Krankwerdens an den Verhältnissen.

Doch diese Argumentation hat bislang kaum Eingang in die aktuellen Krisenanalysen gefunden, geschweige denn zu einer breiten Einsicht geführt, dass die fundamentale Umverteilung von unten nach oben durch die aktuelle Finanzkrise etwas ist, was den Alltag unerträglicher macht – für alle.

Krise als Zugriff auf die Menschenwürde

Menschenwürde war das wichtigste Motiv für den Streik bei Gate Gourmet, dem Flughafen-Catering-Unternehmen. Ein Arbeiter berichtet: Ich fand, „jetzt reicht’s, als ich merkte, dass ich anfing, die Schritte in meiner Küche zu zählen.“[5]McKinsey – die Unternehmensberatung – hatte zuvor alle Spielräume in der Produktion beseitigt, der Konzern sollte (noch) effizienter werden, zwecks Verkaufs an der Börse.

Und in einem meiner Seminare an der Hochschule Ludwigshafen berichtete eine ehemalige Krankenpflegerin von Veränderungen bei ihrer Arbeit. Sie und ihre Kolleginnen waren von einer Unternehmensberatung freundlich aufgefordert worden, eine Liste mit allen „versteckten“ Tätigkeiten anzufertigen. Diese seien dann gelistet und zugunsten von Einsparungen und Effizienz aus dem täglichen Arbeitsablauf verbannt worden. Dazu gehörte es zum Beispiel, die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen und der Heimbewohnerin zu bringen, die das selbst nicht mehr konnte. Was taten die Pflegerinnen fortan, fragte ich. Sie taten es weiter. Nur zusätzlich, heimlich, verdeckt und auf ihre Kosten.

Das zeigt, wie Effizienz gesteigert wird. Es geschieht auf Kosten derer, die noch mit den Menschen direkt zu tun haben, nicht nur mit Zahlen. Die Arbeiten und Realitäten verschwinden nicht, sie werden aus den Kostenrechnungen herausgelöscht. Die neoliberalen Verhältnisse funktionieren nur, indem Realitäten wie die Reproduktionsarbeiten sowie die persönlichen Krisen und Krankheiten ausgeblendet oder abgewertet werden. Damit werden die Kosten externalisiert und abgeschoben – auf die MitarbeiterInnen, auf die Krankenkassen, auf die Betroffenen selbst: Was zählt? – Who cares?

Den aktuellen Höhepunkt dieser Logik bildet die Krise als Schuldenbremse, ein technokratisches Meisterstück, das nichts mehr verhandelbar macht, die Zahlen sind festgeschrieben, nur noch die Mittel können diskutiert werden. Schon 1995 beschrieb der Männlichkeitsforscher R. W. Connell als Spezifikum des Neoliberalismus: Die technokratische Tagesordnung der Manager verallgemeinert sich zum gesellschaftlichen Leitbild, „sie besetzt das Terrain des Sachverstands“ und ersetzt Argumente und Begründungen durch Kennziffern und Zahlen. Sie verschließt damit systematisch die Räume für andere Anliegen, für ihre Versprachlichung und für eine Verständigung.[6]

Dass persönliche und soziale Not, Druck, Überlastung, Krankheiten immer schwerer als Teil der Verhältnisse zur Sprache zu bringen sind, hat System. Erstens, indem Statistiken zum Mantra gemacht werden: Zahlen sind nicht verhandelbar – und sie übernehmen durch ihr bloßes Zahlsein, das nicht hinterfragbar ist, sogar so etwas wie Herrschafts- und Repressionsfunktion. Zweitens kommen Menschen in den Statistiken nur noch als statistische Durchschnittsgröße vor, nicht mehr als Subjekte. Subjekte liegen außerhalb dessen, was zählt. Solche Externalisierungen sind ein strategisches Moment der neoliberalen Krisenlösungen. Die Analyse der indischen Aktivistin Metha Patka bekommt mit der Finanzkrise noch mal mehr Gewicht, denn dass diejenigen, deren Geld auf dem Spiel steht, mehr zählen als diejenigen, deren Leben auf dem Spiel steht, spitzt sich mit der Finanzkrise und der Schuldenbremse zu.

Diese Probleme, die im Alltag einer auf neoliberal getrimmten Gesellschaft entstehen, müssen aufgegriffen und entprivatisiert werden. Es muss – für alle verständlich – erklärt werden, wie Herrschaft sich im Alltag reproduziert und wie wir daran teilhaben. Forderungen, die die Beendigung neoliberalen Denkens als Grundlage der Krisenbewältigung thematisieren, sollten mit Forderungen über eine (Selbst)-Verständigung über die Menschenwürde verknüpft werden. So erst wird deutlich, wie wir – auf Kosten der Menschenwürde – die Krise (er)tragen: Was passiert mit den Wäschekörben und den Zeitungen in den Pflegeheimen? Was geschieht mit denjenigen, die krank werden in den Verhältnissen? Wie lässt sich das Unbehagen an den Verhältnissen jenseits von medizinischen Definitionen fassen? Die feministische Finanzexpertin aus der Schweiz, Mascha Madörin, hat einen passenden Vorschlag zum Widerstand: Wir brauchen eine Messguerilla: gegen das Vermessen unseres Alltags.

Ariane Brenssell, 49, Psychologin, Politikwissenschaftlerin, Professorin an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein

Anmerkungen:

1) Vgl. Charlotte Jurk, 2008: Der niedergeschlagene Mensch: Depression. Geschichte und gesellschaftliche Bedeutung einer Diagnose; Elisabeth Summer, 2008: Macht die Gesellschaft depressiv?

2) Vgl. Erika Zoike, 2010: „Zunahme der psychischen Erkrankungen bei Beschäftigten. Statistische Ergebnisse und Präventionsansätze der Krankenkassen“, in: Heiner Keupp und Helga Dill, 2010: Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt, Bielefeld, S. 61–76

3) Vgl. Karl Heinz Roth 2011: „Griechenland und die Euro-Krise“, in: Sozial.Geschichte Online 6, 2011, S. 156–176 (www.stiftung-sozialgeschichte.de)

4) Richard Wilkinson und Kate Pickett, 2010: Gleichheit ist Glück. Zweitausendeins, und Interview mit Pickett: taz.die tageszeitung vom 13. 3. 2010, Seite 20–21

5) Flying Picketts, 2008: Auf den Geschmack gekommen. Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet

6) Vgl. Robert W. Connell, 1995: „The big picture: Formen der Männlichkeit in der neueren Weltgeschichte“, in: Widersprüche Heft 9/1995, S. 23–46