DER ALTE MEISTER
: Die der Adler holt

Ein YouTube-Clip zeigt, wie ein mächtiger Steinadler über einem Park im kanadischen Montreal in der Luft kreist, plötzlich zum Sinkflug ansetzt und sich ein auf der Wiese hockendes Kleinkind schnappt. Mit dem Kind in den Krallen will er davonfliegen, Erwachsene stürzen herbei, der Vogel lässt seine Beute wieder fallen, es ist mit dem Schrecken davongekommen.

Kleiner Schönheitsfehler: Vermutlich ist der Clip eine Fälschung. Den durchschlagenden Erfolg des Einminüters wird das nicht stoppen. Denn dieser Albtraum jedes Erziehungsberichtigten hat sich tief in den Mythenschatz gegraben: In den Alpen waren es Lämmergeier oder der Nachtkrabb, ein sagenhafter Nachtvogel, die sich die unartigen Kinder schnappen sollten. Prädikat: pädagogisch nicht so wertvoll. Wie es viel besser geht, zeigt das Kinderbuch „Lieschen Radieschen und der Lämmergeier“ von Manfred Auer. Der Geier, der das unartige Lieschen abholen soll, lässt sich von dem selbstbewussten Mädchen zum Reittier abkommandieren und bringt es zu einer Königsfamilie, die aber bald genug hat von der renitenten jungen Dame. So zornige Kinder hole der Lämmergeier, droht der König, doch die Königin seufzt resigniert: „Der hat sie doch gebracht.“ Man weiß eben nie so recht, woran man ist mit diesen seltsamen Vögeln. HW