Auf Ozeanen redet es sich besser

ALTERNATIVEN Wie wollen wir leben? Die japanische Organisation „Peace Boat“ fährt über die Meere, um das herauszufinden. Unsere Reporterin fährt mit

An Tag 22 an Bord ist noch immer nichts in Sicht: keine Insel, kein Schiff – und schon gar kein Wal

VON CHRISTINA FELSCHEN

Der alte Herr auf Deck 7 ist mitten im Vortrag aufgesprungen. „Irgendwer muss doch die Verantwortung tragen!“, ruft er und schüttelt den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass es eine Person an der Spitze gibt, aber ich kann sie nicht sehen!“ Yooki Hirayama lächelt ihn an, höflich.

„Eine gute Frage“, sagt er. Er hat Mühe, sich an seinem Stehpult festzuhalten, sein Oberkörper schwankt im Takt der Wellen. „Bei uns gibt es nicht einen Chef, sondern mehrere“, erklärt er ruhig. „Aber wer entscheidet über das Programm, die Reiseroute?“, fragt der alte Herr. „Das tun wir gemeinsam.“ Der Herr schnaubt. „Ich will die Wahrheit wissen! Sie können mir doch nicht erzählen, dass alle die gleiche Stimme haben, dass es keine Hierarchie gibt!“ „Doch, so ist es.“

Tag 20 einer Reise, die die japanische Nichtregierungsorganisation Peace Boat einmal um den Globus führt, von Yokohama nach Yokohama, über das Chinesische Meer, den Indischen Ozean, den Atlantik und den Pazifik, um beide Kaps herum. An Land, ob auf Kuba oder Taihiti, besuchen sie unterschiedliche Friedensprojekte, an Bord halten Wissenschaftler und andere Gastredner Vorträge. Die Themen sind groß gesetzt: Krieg und Frieden.

Seit einer Woche nun sind wir von Blautönen umgeben, nur die Form der Wolken und Schaumkronen ändert sich. Die Luft wird mit jedem Tag schwüler. Und Deck 7 liegt flach: Eine Erkältungswelle hat das Boot erfasst, ein Kurs zur Piratenabwehr durchkreuzt das Programm – und über unserem nächsten Hafen, Mauritius, tobt ein Zyklon. Das Peace Boat braucht eine Auszeit vom Frieden. „Was mache ich, wenn mein Zimmernachbar schnarcht?“ Ein Passagier in der ersten Reihe hat das Mikrofon erobert. „Ich habe es ihm gesagt, aber er ignoriert es einfach. Kann ich ein Verfahren gegen ihn anstreben?“

Hirayama tupft sich mit einem Lappen übers Gesicht. Er ist zerrissen zwischen zwei Welten: Die japanische Nichtregierungsorganisation Peace Boat nutzt ein Schiff als neutralen Raum, um Zeitzeugen, Aktivisten und von Menschenrechtsverletzungen Betroffene aus aller Welt zusammenzubringen. Doch ohne die knapp tausend „normalen“ Passagiere an Bord, zumeist japanische Rentner, wäre die Arbeit von Peace Boat nicht finanzierbar. Die Generation des Wirtschaftsbooms und der Anstellung auf Lebenszeit trifft auf junge Leute, die keine Lust mehr haben, ihr Leben einem Betrieb unterzuordnen, die ausbrechen wollen.

Insgeheim hoffen Hirayama und die anderen Peace-Boat-Mitarbeiter, dass die Passagiere als Touristen aufs Schiff gehen und es 102 Tage später als Aktivisten verlassen. Als Jüngere haben sie den Rentnern mit Respekt zu begegnen. Obwohl das Schiff längst tropische Gewässer erreicht hat, trägt der 31-jährige Yuki Hirayama noch graue Anzüge und ein Namensschild, das ihn als Reisedirektor ausweist. Nur abends, wenn die Alten schlafen und die Jungen sich auf dem Monddeck versammeln, reißt er sich die Krawatte vom Hals, öffnet ein Bier und seufzt erleichtert: „Ich habe dieses Amt, aber ich bin auch ein Mensch.“

Hikichi Fumie lächelt ihm zu. Wie die meisten jungen Passagiere hat die 24-Jährige zuvor als Freiwillige an Land für Peace Boat gearbeitet, um sich die Reise zu finanzieren. Die Nichtregierungsorganisation unterhält acht Büros in ganz Japan, in denen Schüler und Studenten Passagierdaten eingeben, Konferenzen organisieren und beim Wiederaufbau nach dem Erdbeben helfen – und sich dafür einen Rabatt auf den Reisepreis verdienen. Hinzu kommen ehrenamtliche Mitarbeiter aus der ganzen Welt, die für jede Reise neu rekrutiert werden: je ein Dutzend Dolmetscher, Englisch- und Spanischlehrer, zwei Reporter, Aktivisten, Musiker sowie Gastdozenten, die jeweils für einige Tage an Bord kommen. Und schließlich rund 25 angestellte Mitarbeiter, zu denen auch Yuki Hirayama zählt.

„Als ich zum ersten Mal aufs Peace Boat kam, wollte ich nur die Pyramiden in Ägypten sehen und mit den Stempeln in meinem Pass angeben“, erzählt er auf dem Monddeck, die jungen Leute hören gebannt zu.

Hirayama kann nicht mehr genau sagen, was sein Leben veränderte. War es die Begegnung mit jener Flüchtlingsfamilie im Gazastreifen? Waren es die Diskussionen auf dem Schiff, Nächte wie diese, in denen Fremde zu Freunden werden? „Plötzlich träumte ich nicht mehr vom großen Geld, sondern von einer anderen japanischen Gesellschaft.“ Sein Vater war außer sich vor Wut, als er sagte, er wolle für eine NGO arbeiten. „Das ist doch keine respektable Firma, nichts mit Zukunft. Beleidige mich nicht!“, habe er gerufen. Da wollte Hirayama es erst recht. Er zog bei seinen Eltern aus. Seither ist Peace Boat seine Familie.

Eine Familie, die seit 30 Jahren existiert. Weil die japanische Regierung keinerlei Anstalten machte, die Kolonialverbrechen des 19. und 20. Jahrhunderts in Nordostasien aufzuarbeiten, charterten Tokioer Studenten 1983 ein Schiff, um Koreaner, Chinesen, Taiwaner und Japaner auf neutralem Grund zusammenzubringen. Außerhalb der 12-Meilen-Zone, die dem Einflussbereich der Staaten unterliegt, redete es sich ungestört. Bald kamen Partnerorganisationen aus der ganzen Welt hinzu, und mit ihnen neue Themenbereiche: Atomkraft, Abrüstung, Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung. Mittlerweile ist die Organisation 77-mal durch Asien und um den Globus gereist – die 78. Reise ist gerade gestartet – und nimmt weltweit Einfluss: Sie berät den Wirtschafts- und Sozialrat der UN (Ecosoc), nimmt an internationalen Konferenzen wie dem UN-Gipfel in Rio teil und wurde 2008 für den Friedensnobelpreis nominiert.

Da! Lebenszeichen im Blau

„Wir sehen immer nur die Oberfläche des Meeres“, das hatte uns Peace-Boat-Gründer Yoshioka Tatsuya kurz vor der Abreise mit auf den Weg gegeben. „Auf dem Schiff ist es genauso. Dort geschieht mehr als nur das, was wir sehen.“

Wie recht er hat. An Tag 22 an Bord ist noch immer nichts in Sicht, woran sich der Blick festhalten könnte: keine Insel, kein Schiff – und schon gar kein Wal. Doch an Bord hat sich etwas verändert. Die alten Damen von Deck 7 haben ihre Kimonos gegen afrikanische Kanga-Tücher ausgetauscht, die sie auf dem Schiffsbasar gekauft haben. Beim Frühstück lerne ich eine Dame kennen, die ihren Ehering in den Ozean werfen will. Neben mir an der Reling steht später ein Flüchtlingspaar aus Fukushima, das auf dem Schiff ein neues Zuhause gefunden hat.

Da durchbricht tief unter uns endlich ein Lebenszeichen das ewige Blau: Drei Delphine erheben sich aus dem Meer. Es ist ein bisschen, als würden sie anfangen zu tanzen.

Die Autorin schreibt ab kommender Woche eine Kolumne: „Logbuch“. Dort wird sie erzählen, wie es mit dem schwimmenden Dorf weitergeht. Alle 14 Tage, auf den Reise-Seiten der sonntaz