Filmfestival in Cannes: Das Spiel mit der Sinnlichkeit

Die Goldenen Palmen sind verliehen. Zwei Dinge haben das Filmfestival geprägt: die Neigung zur Tragikomödie und der Umstand, dass Geld eine große Rolle spielt.

Siegerkuss in Cannes: „La vie d’Adèle. Chapître 1 & 2“ erzählt offen und freizügig die Liebesgeschichte zweier Frauen. Bild: dpa

CANNES taz | Blau, weiß, rot: Das sind nicht nur die französischen Nationalfarben, es sind auch die Farben, mit denen sich konservative Franzosen schmücken, wenn sie gegen die rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben marschieren. 150.000 Demonstranten zog es laut Polizei am Sonntag zur Kundgebung in die Nähe des Pariser Invalidendoms, viele schwenkten die Trikolore oder blaue, weiße oder rote Wimpel mit Mama-Papa-Kind-Piktogrammen. Die Demonstration verlief zunächst ohne Zwischenfälle, gegen Abend kam es zu Ausschreitungen.

Zur selben Zeit, 900 Kilometer südöstlich von Paris, nimmt die Farbe Blau eine ganz andere Bedeutung an. „Le bleu est une couleur chaude“ („Blau ist eine warme Farbe“) lautet der Titel einer Graphic Novel von Julie Maroh, die dem Film, der die Goldene Palme der 66. Filmfestspiele von Cannes erhält, als Vorlage dient. Der französisch-tunesische Regisseur Abdellatif Kechiche hat Morehs Buch als „La vie d’Adèle. Chapître 1 & 2“ fürs Kino adaptiert; offen und freizügig verhandelt sein Film das Coming of Age einer Schülerin in Lille, die sich in eine Kunststudentin verliebt.

Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Darstellerin der Hauptfigur Adèle, Adèle Exarchopoulos, dem Film eine schier überbordende Sinnlichkeit schenkt. So gern schaut man ihr zu, dass man nach drei Stunden Laufzeit überrascht ist und fast wehmütig wird, wenn die Kamera Adèle von hinten filmt, während sie eine Straße heruntergeht, in die Tiefe des Bildes herein, und man ahnt, dass dies die letzte Einstellung ist.

Abdellatif Kechiche ist ein Regisseur, der sich darauf versteht, sinnliche Momente in Szene zu setzen: wie Adèle Nudeln mit Tomatensugo isst, wie das Sonnenlicht ihre hellbraune Iris durchscheint, wie ihre Zunge ihre Schneidezähne umspielt, bevor sie Emma (Léa Seydoux) zum ersten Mal küsst.

Oder auch, wie sie, an einer Auster kauend, das Muschelfleisch im Mund hin und her schiebt, bevor sie es mit Mühe schluckt. Das macht deutlich, dass sie an diese Art von Essen weder gewöhnt ist, noch Gefallen daran findet, an der Konsistenz nicht, am Geschmack nicht und schon gar nicht daran, dass eine Auster, beträufelt man sie mit Zitronensaft, noch zuckt, das heißt, noch lebendig ist, wenn man sie im Mund hat.

Quintessenz der Lust

Goldene Palme: „La vie dAdèle“, Abdellatif Kechiche (Frankreich)

Großer Preis der Jury: „Inside Llewyn Davis“, Ethan Coen & Joel Coen (USA)

Preis der Jury: „Like Father, Like Son“, Kore-Eda Hirokazu (Japan)

Beste Schauspielerin: Bérénice Bejo in „The Past“, Asghar Farhadi (Iran)

Bester Schauspieler: Bruce Dern in „Nebraska“, Alexander Payne (USA)

Bestes Drehbuch: Jia Zhangke für „A Touch Of Sin“ (China)

Beste Regie: Amat Escalante (Mexiko) für „Heli“

Bester Debütfilm: Anthony Chen (Singapur) für „Ilo Ilo“

Goldene Palme für den besten Kurzfilm: „Safe“ (Südkorea)

Doch damit ist auch ein Problem des Films umrissen. Bisweilen geht Kechiche zu deutlich vor, zu didaktisch, etwa dann, wenn Emma erklärt, die Freiheit, sie selbst zu sein, habe sie durch die Lektüre von Sartres Texten entdeckt. Oder wenn der Schichtunterschied zwischen den beiden Liebenden – Adèle stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, Emma aus einer arrivierteren Familie – in zahlreichen Details betont wird.

Die lange Sexszene, die während des Festivals für Furore sorgte, ist denn auch weniger deshalb problematisch, weil sie so zeigefreudig wäre, sondern weil sie bebildert, was ein schnöseliger Galerist in einer anderen Szene als Quintessenz weiblicher Lust beschreibt: dass sie maß- und uferlos sei und der weibliche Orgasmus mit dem männlichen nicht zu vergleichen sei.

In solchen Momenten hat man den Eindruck, der Regisseur verfolge ein differenzfeministisches Programm, das sich, so man es zuspitzt und zu Ende denkt, von den Vorstellungen der konservativen Pariser Demonstranten gar nicht allzu sehr abhebt: Hier wie dort setzt man voraus, dass die Unterschiede zwischen Männern und Frauen naturgegeben seien.

Die Jury, in diesem Jahr unter Vorsitz von Steven Spielberg, widmete die Goldene Palme denn auch nicht Kechiche allein; ausdrücklich erkannte sie die Leistung der beiden Schauspielerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos an; und die drei nahmen die Trophäe gemeinsam – und sichtlich gerührt – entgegen. Eine leichte Entscheidung war es sicher nicht, da sich in diesem Jahr besonders viele preiswürdige Filme im Wettbewerb des Festivals versammelten. Das Einzige, was fehlte, war ein Film, der die Grenzen des narrativen Kinos überwunden hätte, ein Solitär wie Leos Carax’ „Holy Motors“ (2012) oder Apichatpong Weerasethakuls „Uncle Bonmee Who Can Recall His Past Lives“ (2010).

Hohe Qualität

Insgesamt aber war das Niveau erstaunlich hoch, angefangen bei Jia Zhangkes „Tian zhu ding“ („A Touch of Sin“), einer gewagten Mischung aus Realismus und Genrekino, die von der prekären Situation von vier Menschen im gegenwärtigen China handelt und die den Preis für das beste Drehbuch erhielt. Arnaud Desplechins Film „Jimmy P. – Psychotherapy of a Plains Indian“ ging leider leer aus, dabei war er so anrührend wie außergewöhnlich.

Jenseits aller Psychiatriefilm-Klischees geht es darin um eine Psychotherapie in den USA der späten 40er Jahre; der Patient, ein indianischer Kriegsveteran, gespielt von Benicio Del Toro, und der Therapeut, ein Immigrant aus Rumänien und Überlebender des Holocaust (Mathieu Amalric), kurieren sich darin gegenseitig.

Auch Arnaud des Pallières ging leer aus, obwohl seine Kleist-Adaption „Michael Kohlhaas“ – mit Mads Mikkelsen in der Rolle des rechtschaffenen Pferdehändlers – in ihrer Kargheit und ihrer Konzentration berückend war. Der Film schmiegt sich an Kleists zerhackte und zugleich dynamische Sätze an, indem er von Nahaufnahmen zu Totalen wechselt und Schnitte einsetzt wie der Schriftsteller die Kommata.

Hirokazu Kore-Edas Film „Soshite chichi ni naru“ („Like Father, like Son“) erhielt verdient den Preis der Jury; der japanische Regisseur erforscht, wie Familienbande sich verheddern, als zwei Elternpaare entdecken, dass ihre fünf Jahre alten Söhne bei der Geburt vertauscht wurden. Die Frage, was mehr zählt, die biologische Herkunft oder die Liebe, die zwischen Eltern und Kindern gewachsen ist, treibt die Figuren um; Hirokazu Kore-Edas mise en scène ist makellos, seine erzählerische Anordnung vielleicht ein wenig zu schematisch: Es sind die Wohlhabenden, die erst lernen müssen, was es heißt zu lieben, während die ärmere Familie voller Herzlichkeit, Güte und Wärme ist.

Die Güte von Fremden

Die Brüder Joel und Ethan Coen steuerten „Inside Llewyn Davis“ bei, einen Film, der traurige und komische Momente souverän verbindet. Er spielt im New York der frühen 60er Jahre und konzentriert sich auf einen Folksänger, der erfolglos bleibt, weder Geld noch Wohnung hat und sich deshalb auf die Güte von Freunden und Fremden verlassen muss. Die wiederum stößt er vor den Kopf, wann immer er kann. Großartig sind die Szenen, in denen Llewyn Davis (Oscar Isaac) bei einer Autofahrt nach Chicago einem Musiker aus New Orleans begegnet, gespielt von John Goodman, der Llewyn verhöhnt und verspottet und zugleich irdischer Statthalter einer Voodoo-Gottheit zu sein scheint.

Die Coens bekamen für „Inside Llewyn Davis“ am Sonntagabend verdient den Großen Preis der Jury. Ihr Film vereint zudem zwei Dinge, die dieses Festival prägten: zum einen die Neigung zur Tragikomödie, die sich auch in anderen Filmen – etwa in Valeria Bruni Tedeschis autobiografischer Fiktion „Un château en Italie“, Alexaner Paynes Familienfilm „Nebraska“ oder Jim Jarmuschs wehmütiger Vampirgeschichte „Only Lovers Left Alive“ – bemerkbar machte, zum anderen den Umstand, dass Geld eine große Rolle spielt.

Mal fließt es in Strömen und wird ostentativ verprasst wie in Baz Luhrmanns Eröffnungsfilm „The Great Gatsby“, mal war es in der Vergangenheit im Überfluss vorhanden, nun aber nicht mehr („Un château en Italie“), mal mangelt es an allen Ecken und Enden wie in Jia Zhangkes „Touch of Sin“ oder Mahamat-Saleh Harouns „Grisgris“.

Selten gab es filmübergreifend so viele Szenen, in denen Geld gezählt wird und Banknoten in die Kamera gerückt werden, und vielleicht ist das ein Krisensymptom. Wer Geld hat, muss bekanntlich nicht darüber sprechen. Wer keins hat, dem wird es zur Obsession.

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