Immer unter Generalverdacht

ORTSTERMIN Ismail Saymaz wurde wegen seiner Arbeit schon oft verklagt. In Berlin spricht der türkische Journalist über die nicht vorhandene Pressefreiheit in seiner Heimat

„Die türkische Presse hat ihre Glaubwürdigkeit schon längst verloren“

ISMAIL SAYMAZ

AUS BERLIN FATMA AYDEMIR

Den linken Arm streckt Ismail Saymaz halb gen Himmel, mit der rechten Hand hält er ein imaginäres Mikrofon vor seinen Mund: „70 Prozent der türkischen Zeitungen bilden fast täglich auf ihrer Seite eins Präsident Erdogan ab, in genau dieser heroischen Pose.“ Diese 70 Prozent der Tageszeitungen in der Türkei stünden der Regierung nah, sagt Saymaz. Manche aus ideologischen Gründen, die meisten aus finanziellen.

Saymaz ist ein souveräner und schneller Redner. Er schließt die Augen, wenn er Details wiedergeben möchte. Seit 2002 arbeitet er als Reporter für die linksliberale türkische Tageszeitung Radikal. Sie gehört zu den restlichen 30 Prozent, die nicht auf Kuschelkurs mit dem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan sind. Auf Einladung von Reporter ohne Grenzen (ROG) und Amnesty International spricht der 33-Jährige am Mittwoch in Berlin über die Situation von Journalisten in der Türkei. Der überschaubare Raum ist schnell gefüllt – mit Journalisten. Seit den im Juni beginnenden Gezi-Protesten ist das Interesse an den autoritären Verhältnissen in der Türkei schlagartig gestiegen. Alle nicken bestürzt und kritzeln ihre Blöcke voll.

Ob sich hingegen die Regierung in Ankara für die internationale Presse interessiert, das ist eine andere Frage. Wurde doch in den vergangenen Monaten jegliche Kritik von außen als westliche Verschwörung gegen das große Wirtschaftswunderland Türkei abgetan.

Komisch ist das Ganze nicht, und doch muss Saymaz immer wieder schmunzeln. Wenn er von den zwanzig Gerichtsverfahren erzählt, die in den vergangenen elf Jahren gegen ihn eingeleitet wurden, oder von der systematischen Ausschaltung aller kritischen Stimmen in der türkischen Medienlandschaft. Davon, dass momentan 64 Journalisten aufgrund ihrer Arbeit in Gefängnissen sitzen – mehr als in jedem anderen Land der Welt. „Für Sie muss das alles sicher völlig absurd klingen“, sagt er und schüttelt den Kopf.

Ja, ziemlich absurd. Man berichtet über Polizeigewalt und wird verklagt. Man erstattet Bericht über den Ergenekon-Prozess – eine angebliche Terrororganisation, die angeblich die Erdogan-Regierung stürzen wollte –, und schon gerät man selbst unter Verdacht, Teil dieser Organisation zu sein.

Doch Saymaz, der im vergangenen Jahr von der türkischen Verlegervereinigung mit dem Preis für Meinungsfreiheit ausgezeichnet wurde, hatte bisher Glück. In der Hälfte seiner Verfahren wurde er freigesprochen, in der anderen Hälfte bekam er wegen eines neuen Gesetzes eine Art Bewährung, mit der Auflage, in den folgenden drei Jahren nicht dieselbe „Straftat“ zu begehen.

Eigentlich ist es ja ein sehr simples Sandkastenspiel. Entweder man will Tayyips Freund sein, das heißt, man verliert kein böses Wort über ihn und seine repressive Politik und wird schnell mit einem hohen Posten beim staatlichen Fernsehen belohnt. Oder man will eben Feind sein, also keine Unterstützung für die fortschreitende Islamisierung des laizistischen Staats leisten. So verliert ein Journalist Job und Freiheit und ein Investor schnell mal sein ganzes Vermögen. Auf der diesjährigen ROG-Liste der Pressefreiheit befindet sich die Türkei auf Platz 154 von insgesamt 179 Ländern – sie steht damit hinter Birma und dem Irak.

Günter Seufert, Wissenschaftler und Istanbul-Korrespondent für diverse deutschsprachige Zeitungen, erklärt, dass es in den türkischen Medien kein Verbot gegen Crossownership gebe, was bedeutet, dass ein Verlagseigentümer oder Besitzer einer Fernsehanstalt möglicherweise auch gleichzeitig einen Energie- oder Baukonzern betreibt. Das hilft, zu verstehen, warum vielen Medien, die einst so kritisch waren, heute viel daran liegt, eine gute Beziehung zur Regierung zu pflegen.

Ob das türkische Volk über diese Zustände nicht genügend aufgeklärt sei, will jemand wissen. Saymaz zuckt mit den Schultern. „Klar“, sagte er, „die türkische Presse hat längst ihre Glaubwürdigkeit verloren. Es ist nur noch reine Geschmackssache, wer welche Zeitung kauft. Manchen gefällt die Titelseite mit einem heroischen Ministerpräsidenten drauf, andere mögen hardcore-kemalistische Blätter wie Sözcü, die nur aus riesigen Schlagzeilen mit Antiregierungsparolen besteht. Jedem das seine“, so Saymaz.