Erzählen im Grenzbereich

AUSGEZEICHNET Die ungarisch-deutsche Autorin Terézia Mora hat für ihren Roman „Das Ungeheuer“ den Deutschen Buchpreis bekommen. Eine Werkschau

■ geboren 1971 in Sopron in Ungarn. Ihre Familie gehörte der deutschsprachigen Minderheit an. Ihre ersten Texte schöpfen aus dieser Herkunft. Im Jahr 1990 ging sie nach Berlin und studierte dort Hungarologie und Theaterwissenschaften, wenig später Drehbuchschreiben an der Film- und Fernsehakademie. Immer wieder hat sie Bücher aus dem Ungarischen übersetzt, unter anderem Péter Esterházys Hauptwerk „Harmonia Caelestis“ oder István Örkénys „Minutennovellen“.

VON ULRICH RÜDENAUER

„Kleingläubig wie ich bin, habe ich nichts vorbereitet – wissend, dass alles, was für ein Buch sprechen kann, auch gegen das Buch sprechen kann“, sagte Terézia Mora, als sie am Montagabend – etwas überrascht wirkend – ins Scheinwerferlicht geriet und den mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreis für den besten Roman des Jahres entgegennahm.

Die siebenköpfige Jury hatte sich „einhellig“ für all das entschieden, was für dieses Buch spricht – seine ästhetische Konsequenz und Virtuosität.

„Das Ungeheuer“ wird auf zwei Ebenen erzählt, als Roadmovie eines Verlorenen und parallel dazu – mit einem schwarzen Strich auf jeder Buchseite von der Haupthandlung getrennt – als Krankheitsgeschichte einer an Depressionen leidenden Frau. In Moras preisgekröntem Roman reist ein trauernder Witwer namens Darius Kopp mit der Asche seiner Frau durch halb Osteuropa, auf der Suche nach deren Geschichte. Am Ende findet er sich selbst und wird ein „erwachsener Mensch“, wie die Autorin lakonisch kommentiert.

Moras „Ungeheuer“ ist eine Reise ins Unergründliche, eine die Gräben zwischen zwei Menschen aufzeigende Geschichte, eine Totenfahrt und Wiedergeburt zugleich. Ein „tief bewegender und zeitdiagnostischer Roman“ sei der 42-Jährigen da gelungen, heißt es in der Jury-Begründung. Die nun zu erwartende hohe Auflage und zahlreiche Auslandslizenzen machen die Auszeichnung zur einträglichsten hierzulande.

Terézia Mora ist, auch wenn erst jetzt eine größere Öffentlichkeit auf ihr Werk aufmerksam wird, keine unbekannte Autorin. Vor 16 Jahren las sie beim Open-Mike-Wettbewerb in Berlin, und es gibt einige Zuhörer, die noch heute von diesem Auftritt berichten wie von einer literarischen Offenbarung: Als sie die Bühne betrat, habe sich im Raum etwas verändert, schrieb der Kritiker Volker Weidermann über diese Premiere. Die Zuhörer hätten sich aufgerichtet, so, wie man sich aufrichtet, wenn man aufmerksam sein und nichts verpassen möchte. Die Haltung des Textes schien auch etwas an der Haltung der Veranstaltungsbesucher zu verwandeln. Mora las „Durst“, eine Erzählung, die später in ihrem Debütband „Seltsame Materie“ erscheinen sollte. Es waren kurze, prägnante, wach- und also aufrüttelnde Sätze.

Absurd und völlig normal

Vielleicht wünschte man sich, dass es immer genau so ist, wenn eine neue Stimme ertönt: dass alle, die dabei sind, sofort wissen, dass es eine neue Stimme ist, ein eigenständiger Ton, ein Ereignis. Terézia Mora gewann den Open-Mike-Wettbewerb. Sie gewann wenig später auch den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt mit der Erzählung „Der Fall Ophelia“, der ebenfalls in ihrem ersten Erzählungsband „Seltsame Materie“ enthalten ist.

„Seltsame Materie“ ist ein Buch, das noch vor der Zeitenwende des Jahres 1990 spielt – in der Diktatur, im Ostblock. Terézia Mora, in Ungarn geboren, schöpft in ihren ersten Texten aus dieser Herkunft. Als Kind, so erzählt die Autorin, habe sie unbedingt der Enge ihres ungarischen Dorfes entkommen wollen. Kaum erwachsen packte sie ihre Koffer und ging nach Budapest, 1990 dann nach Berlin. Ihrer Heimat Ungarn blieb sie dennoch verbunden, ihre Texte zeigen es. Diktatur meint darin nicht nur die Anmaßungen und Bedrängungen eines totalitären Systems, sondern weit mehr. Die Tyrannei, die den Hintergrund dieser Geschichten und auch ihren Kern bildet, sei ein Geflecht mehrerer autoritärer Systeme, wie die Autorin einmal schrieb: bäuerliche Lebensweise gehört dazu, katholische Religionsausübung sowie die Zugehörigkeit zu einer ethnischen, sprachlichen Minderheit. Auch das eine Erfahrung, die Mora teilt: Ihre Familie gehörte der deutschsprachigen Minderheit in Ungarn an.

Moras Erzählungen spielen in den Grenzbereichen dieser sich auflösenden Systeme, und sie spielen sich tatsächlich auch topografisch an einer Grenze ab (der zu Österreich), an der Grenze zu einer neuen Zeit und auch einer Grenze verschiedener Lebensalter. Sie habe in dieser Welt, die sie schildert, eines gelernt: dass diese Welt absurd und das völlig normal sei.

Der große Durchbruch als Autorin gelang ihr 2004 mit dem Roman „Alle Tage“, für den sie mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Die Hauptfigur dieses Romans heißt Abel Nema, und dieser Abel Nema, so steht es in „Alle Tage“, sei „ein Mensch mit bemerkenswerten Talenten, zehn Jahre, zehn Sprachen, gelernt und gelehrt, und auch als Privatperson von einiger Wirkung“.

Moras „Ungeheuer“ ist eine Reise ins Unergründliche, eine gräbenaufzeigende Geschichte

Abel ist ein Held, wie er so skurril und unvergesslich in der Literatur nur selten auftaucht. Das Besondere an ihm: Richtig fassen lässt er sich nie, obwohl wir ihn auf jeder Seite besser kennenlernen. Er, der als 19-Jähriger aus einer Kleinstadt im Osten in eine westliche Metropole gelangt, muss diverse Kulturschocks erst einmal verdauen. Das tut er und tut er nicht. Er kommt an und bleibt doch fremd und zwischen allen Stühlen. Mora tariert diesen Schwebezustand mit ihrer Sprache aus: Sie spricht dabei auf ihre Weise mindestens so viel wie ihr Held. Sie wechselt zwischen verschiedenen Tonarten und Textsorten hin und her, zwischen genauen Wirklichkeitsbeschreibungen und ins Surreale spielenden Bildern, sie eignet sich verschiedene Stimmen an, verändert fortlaufend die Perspektive, manchmal von Buchseite zu Buchseite. „Alle Tage“ ist ein Panoptikum, ein ohrenbetäubend vielstimmiges Klangwerk, ein angenehm verwirrendes Gewusel von Geschichten und Menschen, die allesamt ihre Eigenheiten bewahren dürfen.

Krise und Konfusion

Darius Kopp, dem wir in „Das Ungeheuer“ wieder begegnen, taucht in „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009) das erste Mal auf, ein Mann ganz ohne bemerkenswerte Talente. Er hat nichts mit Abel Nema gemein, obwohl er ebenfalls einem untergegangenen System entstammt. Was er allerdings doch mit ihm teilt: eine Autorin, die ihre Figuren, so unscheinbar sie auch sein mögen, zu lieben scheint und ihnen durch ihre Sprache allen Raum gibt.

Über ihren Antihelden Darius Kopp sagte Terézia Mora vor vier Jahren im Interview, er wolle sich überhaupt keinen Überblick über seine durchaus bedrohliche Lage verschaffen. „Da müsste er ja anfangen zu leiden, und das ist ihm fremd. Im Grunde möchte er von Anfang bis zum Ende seines Lebens möglichst in Ruhe durchkommen.“ Dass man eben doch nicht in Ruhe durchkommen kann, muss Darius Kopp nun schmerzhaft am eigenen Leib und an der Seele erfahren.

Der Roman „Das Ungeheuer“ ist ein „perspektivenreicher Nekrolog“, eine persönliche Leidensgeschichte und zugleich eine Reise in die Gegenwart eines vielschichtigen und teils fremden Europas. Terézia Mora weiß um diese Fremdheit. Aber auch darum, sie mit allen gebotenen literarischen Mitteln zu überwinden. Die Jury des Deutschen Buchpreises hat einen höchst aktuellen, formal spannenden und erzählerisch mitreißenden Roman ausgezeichnet. Nun ist es an den Lesern, ihn zu entdecken.

Kultur SEITE 12