Ungebetene Gäste auf der Timeline

FACEBOOKISIERUNG Twitter nimmt den Nutzern die Kontrolle über die angezeigten Informationen

„Auf Facebook findest du die Menschen, die in deine Schule gegangen sind, auf Twitter jene, mit denen du gern zur Schule gegangen wärst.“ Dieses snobistisch anmutende Credo vieler Twitter-Nutzer erfährt seit neuestem eine ungebetene Erweiterung. Neben den abonnierten Feeds und „Sponsored Tweets“, also bezahlter Werbung, werden den Nutzern nun Kurznachrichten von nicht abonnierten Accounts in die Timeline gespült, die nach Meinung des Mikrobloggingdienstes „für dich relevante Inhalte“ haben.

Die Aufregung über diese Änderung an der Oberfläche erscheint auf den ersten Blick paradox: Ein signifikanter Teil der technikaffinen Nutzer widersteht praktisch jeder Änderung „ihres“ Systems, „ihrer“ App, „ihrer“ Oberfläche mit konservativstem Beharrungsvermögen.

Prinzip Twitter gefährdet

So wird schon lange jedes Update der Twitterapp oder des Werbeinterfaces mit rauen Beschimpfungen quittiert. Das mag übertrieben wirken. Der Schritt, den Twitter mit der Präsentation nicht bestellter Inhalte jetzt versucht, hat jedoch das Zeug dazu, das Prinzip des Dienstes nachhaltig zu verändern – das Prinzip nämlich, dass der Nutzer alleine den Informationszufluss in seiner Timeline kontrolliert.

Der Kommunikationswissenschaftler Günter Hack beschreibt auf zeit.de den Wert dieser Kontrolle anhand der Wahrnehmung der Zustände in Ferguson auf Facebook und Twitter. Während Facebooks Auswahlalgorithmen Tage brauchten, um das Thema in den Timelines der Nutzer auftauchen zu lassen, verbreiteten sich Bilder und Kommentare ungefiltert und zügig auf Twitter.

Auch darum ist Twitter als Werkzeug bei Journalisten so beliebt: wegen der unmittelbaren Abbildung von aktuellen Ereignissen, ohne zwischengeschaltete und wertende Algorithmen.

Da Twitter bereits mit einigen Designentscheidungen in der jüngeren Vergangenheit, wie der prominenteren Einbindung von Bildposts, angedeutet hat, dass ein Ziel des Dienstes eine Art „Facebookisierung“ sein könnte, ist Misstrauen angebracht. Ein paar nicht bestellte Tweets zu „für dich relevanten“ Themen sind sicher noch kein Problem. Da es bei diesem Experiment jedoch kein Opt-out gibt, stellt sich die Frage, wie lange es noch dauern wird, bis die chronologische Abfolge unverlangt nach unbekannten Kriterien abgewandelt wird oder „irrelevante Tweets“ ganz verschwinden.

Dann kommen vielleicht auch mehr alte Schulfreunde zu Twitter und damit mehr Werbekunden. Als Werkzeug für „Journalisten, Wissenschaftler und andere Akteure, die ernsthaft daran interessiert sind, sich zu aktuellen Themen einen Überblick zu verschaffen“, wie Günter Hack Twitter noch sieht, wird es dann aber unbrauchbar. KRT