Kann Verhandeln die Liebe retten?

GERECHTIGKEIT Familie und Arbeit lassen sich nicht vereinbaren. Das ist die neue Ernüchterung der Mittelschicht. Ein Mann und eine Frau aus Berlin versuchen es doch. Sie schließen einen Vertrag

Warum scheitern Verhandlungen? Juristen an der Harvard-Universität haben eine wegweisende Verhandlungsstrategie entwickelt. Sie kennen auch die häufigsten Gründe für ein Misslingen:

Erster Fehler: Ein Verhandlungspartner versucht der anderen Seite eigene Ideen aufzuzwingen.

Zweiter Fehler: Die Verhandlungspartner vermischen Sachprobleme mit Beziehungsproblemen.

Dritter Fehler: Die Verhandlungspartner nehmen an, dass der zu verteilende Kuchen begrenzt sei.

Vierter Fehler: Jemand versucht Interessengegensätze mit Druck auszugleichen.

AUS BERLIN, MÜNCHEN UND OSLO JANA PETERSEN
, LUISE STROTHMANN
(TEXT) UND DAVID OLIVEIRA (FOTOS)

Susanne Bruha, genannt Suse, 35 Jahre alt, wohnhaft in 10997 Berlin, und Michael Bohmeyer, genannt Micha, 29 Jahre alt, wohnhaft in 10997 Berlin, haben einen Vertrag geschlossen. Eigentlich ist es eine ganze Verfassung, ein Grundgesetz ihrer Beziehung. Ein Dokument im Internet, auf das nur sie zugreifen können.

§ 1 Wir teilen uns die Kinderbetreuung tageweise: Mo Micha, Di Suse, Mi Micha, Do Suse und so weiter.

§ 2 Schichtwechsel ist abends 20 Uhr, die Übergabe des schlafenden Kindes.

Suse Bruha und Micha Bohmeyer sind ein Liebespaar. Zusammen mit ihrer zweijährigen Tochter sind sie eine Familie. Die Verfassung haben sie drei Monate vor der Geburt geschrieben.

Die Wohnungstür öffnet sich, und kurz erscheint Micha Bohmeyer im Türspalt – verstrubbelte Haare, Drei-Tage-Bart. „Alleine!“, ruft eine Kinderstimme. Bohmeyer schiebt die Tür wieder zu, damit seine Tochter sie alleine aufmachen kann. Sie rennt den Flur hinunter. In der Küche klebt rosa Quark auf dem Tisch. Bohmeyer ist heute dran mit Kinderbetreuung, das Frühstück haben die beiden schon hinter sich. Jetzt müssen sie schnell raus. Suse Bruha will in der Wohnung arbeiten.

Als Micha Bohmeyer und Suse Bruha ihre Verfassung schrieben, waren sie seit knapp anderthalb Jahren ein Paar und lebten in unterschiedlichen Wohnungen – als zwei Menschen, denen ihre Freiheit wichtig ist. Micha Bohmeyer, der als Selbstständiger arbeitet, seit er 16 Jahre alt war, Webseiten programmierte und Firmen gründete. Bekennend faul, bekennend unordentlich. Und Suse Bruha, freie Journalistin, gut organisiert, mit einer Leidenschaft fürs Arbeiten und Nächte-Durchfeiern. Bruha war im sechsten Monat schwanger, als ihr die Zukunft immer deutlicher vor Augen stand: ein Alltag, in dem Kind und Haushalt an ihr hängen bleiben.

Eigentlich wäre es einfacher sich zu trennen und das Kind allein zu erziehen, dachte Suse Bruha. Dann wäre völlig klar, wer wann dran ist.

Aber könnte man sich nicht auch als Paar so organisieren, als sei man alleinerziehend?

So entstand ihr Modell 50 : 50. Sie wohnen zusammen in einer Wohnung in Berlin-Kreuzberg. Aber mit der Betreuung des Kindes und dem Haushalt wechseln sie sich ab: Jeder ist einen Tag lang dran. Der andere kann arbeiten – oder ohne schlechtes Gewissen nichts tun. So leben sie seit der Geburt ihrer Tochter.

„Mama helfen“, ruft Meta und rennt auf Micha Bohmeyer zu. Ein Kinderbauernhof, nicht weit von ihrer Wohnung. Bohmeyer sitzt auf einer Bank, hinter Holzzäunen dösen Schafe und Esel. Gerade hat Meta noch an der Wasserpumpe gespielt, nun reißt sie an ihrem nassen Pullover und ruft: „Mama!“ Mama sei immer derjenige von beiden, der gerade helfen soll, sagt Bohmeyer.

Er hat darum gebeten, seine Tochter hier Meta zu nennen, obwohl sie anders heißt. Micha Bohmeyer und Suse Bruha wollen die Google-Zukunft ihres Kindes nicht schon mit ihren eigenen Konzepten füllen.

Drei Tage später sitzt Suse Bruha auf demselben Kinderbauernhof. Sie hat die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trägt Leggings mit Blumenmuster unter dem Rock. Meta verscheucht ein paar Hühner.

„Die häufigste Frage ist: Macht ihr denn nie was zusammen“, sagt Bruha. Natürlich, antworte sie dann. Nur seltsam, dass man das nie Paare frage, in denen sich die Frauen allein um die Kinder kümmern.

Bruha und Bohmeyer sind mit ihrem Modell so etwas wie die Antithese im aktuellen Familiendiskurs der aufgeklärten Mittelschicht. Gerade erschien ein Buch mit dem Titel „Die Alles ist möglich-Lüge: Wieso Familie und Beruf nicht zu vereinbaren sind“. Die Autorinnen schreiben, Kinder und Job unter einen Hut zu bekommen, sei keine Frage der Organisation. Sondern einfach unmöglich.

Ein Autor des Magazins Cicero schrieb, hinter der Forderung, Kinder und Karriere müssten vereinbar sein, stehe die Sehnsucht nach einem Leben ohne Konsequenzen. In der Wochenzeitung Zeit erzählen zwei Autoren von ihrer Zerrissenheit zwischen Bolzplatz und Interviewtermin. Ihre These: Familienverantwortung gleichberechtigt verteilen und im Beruf zufrieden sein, geht einfach nicht.

Aber muss es nicht irgendwie gehen?

Um Lösungen wird in den Parlamenten gerungen, in den Betrieben und eben in den Beziehungen. Kita-Offensive und Betreuungsgeld. Home-Office und Jobsharing. Babysitter und Augenringe.

Micha Bohmeyer hatte anfangs keine Lust, sich vor der Geburt seines Kindes mit Organisationsfragen auseinanderzusetzen. „Das ergibt sich doch alles“, hatte er gesagt.

„Es ergibt sich gar nichts“, hatte Suse Bruha geantwortet.

Sie kannte die Zahlen: 60 Prozent der Eltern mit Kindern zwischen einem und drei Jahren wünschen sich, dass beide Partner gleich viel arbeiten und sich gemeinsam um Betreuung und Haushalt kümmern. Nur 14 Prozent geben an, dass das klappt. Bruha und Bohmeyer stritten. Immer wieder kam sie mit Fragen. Kinderwagen? Kinderbett? Immer wieder wies er sie ab. Sie war ermüdet, frustriert.

Was kann eine so verfahrene Situation retten? Vielleicht dieselbe Strategie, mit der man Konflikte zwischen verfeindeten Staaten löst.

„Was ist Verhandeln?“, schreibt Tineke van der Vorst mit einem Filzstift auf ein großes Blatt Papier, das an einem Ständer hängt. Ein kleiner Seminarraum in Berlin-Mitte. Ein Halbkreis aus Stühlen, Zimmerpalmen und eine große Papierlampe mit weichem Licht. Hinten ein Tisch mit Buchempfehlungen: „Das Harvard-Konzept: Sachgerecht verhandeln – erfolgreich verhandeln“.

Vorn steht Tineke van der Vorst, eine große Frau mit tiefer Stimme, kurzem grauen Haar und Perlenohrringen. Über ihrem Oberteil mit Leopardenmuster baumelt an einem Band ihre Lesebrille. Tineke van der Vorst, 66, ist eine der bekanntesten Verhandlungstrainerinnen Europas. Sie gibt seit über vierzig Jahren Seminare wie dieses.

Der Ansatz, den sie lehrt, wurde an der Harvard-Universität in den USA entwickelt und gilt mittlerweile als einflussreichste Verhandlungsstrategie der Welt. Sein Erfinder, der Jurist Roger Fisher, beriet die Vertreter Israels und Ägyptens, die 1978 in Camp David ein Friedensabkommen verhandelten. Er wurde im Entspannungsprozess zwischen Sowjetunion und USA konsultiert.

Lange ging es bei Verhandlungen vor allem darum, mit welchen Tricks man sein Gegenüber am besten übers Ohr haut. Fishers Konzept zielt darauf, dass für beide Seiten Gutes herauskommt. Eine Win-win-Situation.

In dem Seminarraum in Berlin-Mitte stellt sich Tineke van der Vorst mit dem Filzstift neben die Flipchart und erklärt, worauf es beim Verhandeln ankommt.

1. Schritt: die innere Verhandlung. Wer bin ich? Was will ich? Was bin ich bereit dafür zu geben? Wie ist die Beziehung zum Verhandlungspartner? Was war in der Vergangenheit?

„Ich hasse es, Verantwortung zu übernehmen. Ich schlafe gern aus. Ich bin egoistisch. Und unordentlich. Ich kann nicht kochen. Ich räume nie auf. Ich lass mich gern bedienen. Und ich finde mich dabei gut und habe eigentlich überhaupt keine Lust, daran irgendetwas zu ändern“, schreibt Micha Bohmeyer. Er und Suse Bruha haben ein gemeinsames Blog, auf dem sie von ihrem Alltag erzählen. Femiliy Affair heißt er. Nicht Family, sondern Femily, wie Feminismus.

„Statt weiterhin faul und verantwortungslos dahinzuleben, wie bisher, hab ich mich auf einmal verpflichtet 50 % meiner Lebenszeit ALLES das zu tun, was Suse am darauffolgenden Tag auch tun wird“, schreibt Bohmeyer im Blog. „Klingt erstmal nach einem schlechten Verhandlungsergebnis für mich.“

Danach zählt er auf, warum die Vereinbarung trotzdem eine Win-win-Situation ist: Er geht gern abends aus und hatte Angst, mit schlechtem Gewissen zu Hause zu sitzen, weil er seine Freundin nicht allein lassen will. Nun regelt der Vertrag, wann er frei hat und in die Kneipe gehen kann. Oder Jobs einplanen. Und seine Freundin bleibt die selbstbewusste Frau, in die er sich verliebt hat. Mit eigenem Leben jenseits von Kinderkacke und Schnullergrößen.

Solange Bruha ihre Tochter noch gestillt hat, gab es allerdings kein echtes 50:50. Sie musste auch an den Tagen stillen, an denen ihr Freund mit Kind und Haushalt dran war. Die Ausgleichsregel lautete, er solle ihr dann im Zweifel mit dem hungrigen Kind hinterherreisen. Passierte aber nie. Als Bruha abgestillt hatte, war Bohmeyer an der Reihe: jede Nacht aufstehen, Flasche geben. Er sei sauer gewesen, sagt er. Auf Suse.

Ihr größtes Problem ist, dass sie zwar die Tage gerecht aufteilen können. Dass das aber nicht bedeutet, dass auch die Aufgaben gerecht verteilt sind.

Ein Kindertag mit Micha Bohmeyer: Die Morgensonne scheint warm, Bohmeyer fährt mit dem Fahrrad über die Backsteinbrücke, über ein paar rote Ampeln, Meta auf dem Kindersitz. Er parkt vorm Drogeriemarkt. Bohmeyer wollte mal etwas im Haushalt tun und hat die Nuckel-Aufsätze von Metas Flaschen ausgekocht. Dann brannte plötzlich der Topf. Jetzt rennt er durch den Laden und sucht eine Packung neuer Gummiteile. Er wirft sie in den kleinen Einkaufswagen, mit dem Meta um die Ecke kommt. Mission erfüllt. Jetzt bleibt noch fast ein ganzer Tag für Spielplatz, Bauernhof und einen Abstecher zur Demonstration um die Ecke.

Ein Kindertag mit Suse Bruha: „Wie lange braucht die Waschmaschine noch?“, ruft sie. „Aha, 24 Minuten.“ – „Raus!“, ruft Meta. „Ich will auch raus“, sagt Bruha, „aber eigentlich wäre es gut, die Maschine noch abzuwarten.“ Meta zieht sich die Strümpfe an. Sie sitzt in ihrer Spielecke unter dem hölzernen Hochbett. An der Wand des Zimmers: Suse und Meta auf Fotos, direkt nach der Geburt, Selbstgemaltes, verziert mit Klebeband und Glitzerfarbe. Die Maschine ist fertig. „Nur noch kurz aufhängen!“ Bruha schleppt die Wäsche ins Wohnzimmer, hängt Unterhosen, Bettlaken, Handtücher auf den Ständer. „Raus!“, ruft Meta. Suse Bruha macht noch schnell eine neue Maschine an.

„Diese Haushaltssache“, sagt sie, „das verstößt völlig gegen unsere Verfassung.“

Bruha sieht, wenn Metas Bett mal frisch bezogen werden muss. Ihr Freund sieht es nicht. Sie hat ihn immer wieder ermahnt, gewarnt, verflucht. Am Ende kümmert sie sich selbst.

Männer lernen durch den Alltag, dass sie genauso sind wie Frauen: Sie lieben ihre Kinder, verzweifeln, wenn ein Baby schreit, und hassen es, wenn der Partner spät nach Hause kommt

„Ich werde als Held gefeiert“, sagt Bohmeyer, „denn ich habe die Gesellschaft auf meiner Seite.“ Wenn ein Mann nur 40 Prozent der Arbeit übernimmt, übertrifft er schon alle Erwartungen. Wenn eine Frau 60 Prozent übernimmt, ist das weniger als gewohnt. Und damit nicht viel.

Ihr Modell funktioniert vor allem, weil sie Freiberufler sind. Auch da gibt es allerdings Grenzen. Sie haben ihre Kinderschichten mittlerweile schon von 24 auf 48 Stunden am Stück verlängert, um besser planen zu können. Suse Bruha hat früher öfter Tagesdienste in Redaktionen übernommen. Weil sie mehrmals nicht arbeiten konnte, wird sie aber nicht mehr angerufen. Bis sich so etwas ändert, sind noch ein paar Verhandlungen in der Arbeitswelt nötig.

Ein neues Blatt auf der Flipchart im Verhandlungstraining.

2. Schritt: das Gespräch. Keine Positionen beziehen, sondern Interessen transparent machen und versuchen gemeinsame Interessen zu finden. Dabei Beziehung und Sachebene trennen.

Ingrid Krombholz kommt an diesem Morgen zu spät in das Münchener BMW-Hochhaus. Sie musste noch ihre fünfjährige Enkeltochter in den Kindergarten bringen. Aljona übernachtet immer von Dienstag auf Mittwoch bei ihr, Krombholz hat in ihrem Onlinekalender eine eigene Farbe für ihre Enkelin eingeführt. Ab 17 Uhr ist der Dienstag lila.

Ingrid Krombholz, 56, breitgeschnittener Hosenanzug, rotgefärbte Haare, Mittelscheitel, ist IT-Expertin. Sie hat drei Kinder großgezogen und Karriere gemacht. Und sie hat viel dafür getan, dass auch andere das können.

Ihr Sohn Martin hat gerade ein Promotionsstipendium für Mathematik in Cambridge bekommen, erzählt sie. „Da hat sich als gut erwiesen, dass er nicht die ganze Zeit mit mir, sondern mit qualifizierten Erzieherinnen zusammen war“, sagt sie und lacht laut und rau.

Als Martin ein knappes Jahr alt war, das war 1991, hielt sie es zu Hause nicht mehr aus. Aber eine Betreuung für ein so kleines Kind zu finden, war aussichtslos.

In Westdeutschland gibt es damals für 1,5 Prozent der Kinder im Krippenalter einen Betreuungsplatz. Bei BMW sollten noch zwanzig Jahre vergehen, bis erstmals eine Frau in den Vorstand gewählt wurde. Die Leute an der Spitze des Unternehmens sind Männer wie Eberhard von Kuenheim, Jahrgang 1928, der einem Adelsgeschlecht aus Ostpreußen entstammt und in seiner Universitätszeit die Schärpe einer schlagenden Studentenverbindung trug.

Krombolz ist eine der ersten Frauen im IT-Team. Die Universitäten fangen in diesen Jahren gerade erst an, Informatikstudiengänge einzurichten. Wenn sie bei BMW in einer anderen Abteilung anruft, um einen Termin auszumachen, wird sie gefragt, für wen sie den Termin machen solle.

Sie startet einen Aufruf in der BMW-Betriebszeitung Bayernmotor: Interessierte für die Gründung eines Kindergartens gesucht. Es soll ein Verein werden, in dem die Eltern über den Bedarf an Betreuung bestimmen. Und sie will, dass BMW einen Teil der Kosten übernimmt.

Warum hat sie nicht von der Firma verlangt, eine richtige Betriebskita zu gründen? „Das war schon ein eher konservatives Unternehmen“, sagt sie. Eine Betriebskita kostet Millionen. „Maximalforderungen zu stellen, wäre da nicht klug gewesen.“ Die holländische Verhandlungstrainerin Tineke van der Vorst würde sagen, dass Krombholz stattdessen versucht hat, gemeinsame Interessen zu finden. Argumente dafür, dass beide Seiten etwas gewinnen können.

Ingrid Krombholz ging zu denen, die etwas zu sagen hatten, bei BMW und beim Jugendamt: Sehr geehrtes Management, wenn Sie uns Räume stellen und Kantinenverpflegung zahlen, haben Sie für wenig Geld zufriedenere Mitarbeiter. Sehr geehrte Stadtverwaltung, wenn Sie die Erzieherinnen bezahlen, schaffen Sie Betreuungsplätze, die ein Bruchteil dessen kosten, was Sie für eine öffentliche Krippe ausgeben müssten.

1992 wurde die Kita schließlich eröffnet. Es war deutschlandweit die erste betriebsnahe Elterninitiative. Ingrid Krombholz arbeitete an Kita-Konzepten für drei weitere BMW-Standorte mit. Von Microsoft meldeten sich Leute bei ihr, um ähnliche Initiativen zu starten.

Ingrid Krombholz huscht durch den Regen vom Auto in die Kita, die sie einst gegründet hat. An der Garderobe hängen grüne, pinke und gelbe Regenjacken.Ingrid Krombholz setzt sich an einen der kleinen Tische und lässt sich von einem Mädchen mit Papierbananen füttern. Die Eltern der Kinder hier arbeiten schon in einer Welt, in der Konzerne wie BMW mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf werben. Von Zeitkonten und Sabbatical ist da die Rede, von Vollzeit Select und Telearbeit.

Dennoch müssen viele Verhandlungen noch geführt werden. Viele Maßnahmen bevorteilen gut Ausgebildete. In der Diskussion um flexible Arbeitszeiten redet niemand von der Schichtarbeiterin in der Fertigungshalle.

Noch ein Blick auf die Flipchart im Verhandlungsseminar.

3. Schritt: Neue Möglichkeiten erarbeiten. Wir gehen oft davon aus, dass es einen begrenzten Kuchen gibt, der zu verteilen ist. Aber vielleicht kann man den Kuchen vergrößern?

Ein flacher Backsteinbau, ein paar hundert Meter vom Zentrum Oslos entfernt. Hier, am norwegischen Institut für Friedensforschung, hat Helga Hernes ihren Arbeitsplatz, „ein chaotisches Büro, das ich mit einem chaotischen Philosophen teile“. Hernes ist 76 Jahre alt, sie strahlt eine feine Strenge aus, eine Faltenwelle auf ihrer Stirn ist immer in Bewegung, wenn sie spricht.

Die gebürtige Deutsche kam wegen einer Beziehung nach Norwegen. Sie wurde eine der wichtigsten Figuren im Kampf um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Anfang der siebziger Jahre gründete sie die einflussreiche feministische Organisation Frauenfront mit, ihre Schriften beeinflussten die Entscheidungen der Regierung, sie setzte die Frauenquoten in Politik und Wissenschaft mit durch. Sie wurde später Staatssekretärin und Botschafterin in der Slowakei und im Vatikan.

Norwegen gilt als familienpolitisches Paradies. Eine flächendeckende Versorgung mit Kitas gab es hier bereits in den siebziger Jahren. Der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen ist weltweit am niedrigsten. Der normale Arbeitstag von Eltern, auch in Chefpositionen, endet in vielen Unternehmen um 16 Uhr. Neun von zehn Vätern in Norwegen teilen die Elternzeit mit ihrer Partnerin.

Noch in den fünfziger Jahren war das anders. Das Land hatte den geringsten Anteil an arbeitenden Frauen in Europa.

Dann fand Norwegen das Öl.

Auf einen Schlag wurden viele neue Arbeitskräfte gebraucht: die norwegischen Frauen. Eine starke Frauenbewegung forderte die Kitaplätze, die es bis dahin kaum gab. Binnen weniger Jahre veränderte das die norwegische Gesellschaft grundlegend. „Eine Mischung aus politischem Aktivismus und neuen wirtschaftlichen Realitäten war das“, sagt Hernes. „Die Zivilgesellschaft hat Forderungen gestellt, die Bürokratie hat geantwortet.“

Hernes erzählt zügig, ihr Deutsch ist ein bisschen holprig geworden in all den Jahren, ihre Gedanken sind präzise. Die wichtigste Verhandlung in dieser Zeit sei die innerhalb der Bewegung gewesen. Eine Selbstfindung, die zentrale Frage: Welche Interessen haben wir? „Wir haben die bürgerlichen Frauen angeklagt, dass sie nur über Sex reden, und die haben uns angeklagt, dass wir nur über so langweilige Dinge wie Politik reden.“ Aber zum Schluss gab es eine gemeinsame Forderung: Wenn Frauen arbeiten, müssen ihre Kinder versorgt sein. Also: mehr Kitas.

Viele Unternehmen werben für mehr Familienfreundlichkeit. Aber was sagen all die schönen Sätze wirklich?

„Familienfreundlichkeit ist ein harter Standortfaktor für unser Unternehmen“ (Familienfreundlichkeit ist echt teuer. Zu teuer.)

„Familienfreundlichkeit ist uns wichtig, weil unsere Mitarbeiter unser Kapital sind.“ (Und was zeichnet Kapital aus? Es arbeitet!)

„Familie ist das Wichtigste im Leben, Arbeit das Zweitwichtigste. Und das sollte man verbinden.“ (Tauschen Sie einfach die Prioritäten.)

„Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht Privat-, sondern Chefsache.“ (Wenn der Chef mit seinen Kindern auf den Spielplatz will, ist das natürlich okay. Aber Sie sind nicht der Chef, oder?)

„Es ist wichtig für uns, nicht nur kranken Menschen mit unseren Arzneimitteln helfen zu können. Wir engagieren uns genauso intensiv dafür, dass sich unsere Mitarbeiter bei uns wohl fühlen und Beruf und Familie miteinander vereinbaren können.“ (Familie ist so etwas wie eine Krankheit. Stecken Sie sich bloß nicht an.)

In den achtziger Jahren kam die Macht. Die außerparlamentarische, feministische Opposition ging in die Politik. Gro Harlem Brundtland regierte als erste Frau. Und Helga Hernes kam durch die Quote in den norwegischen Forschungsrat. Sie sollte die Frauenforschung im Land organisieren.

In Deutschland gibt es gerade eine Art norwegische Situation. Die Bundesrepublik steht finanziell ganz gut da. Zugleich fehlen der Wirtschaft Fachkräfte. Dass Familienpolitik die Menschen stark beschäftigt, erlebten die Parteien bei der letzten Bundestagswahl. Wer sich um das Thema nicht kümmerte, verlor Stimmen. Die meisten Väter wünschen sich eine Arbeit in Teilzeit, 80 Prozent der Führungskräfte möchte weniger arbeiten.

Gute Vorraussetzungen für Verhandlungen.

In Norwegen lief das so: Zuerst musste die Politik auf den neuen Wunsch der Frauen reagieren: Sie wollten arbeiten. Dann reagierten die Männer auf die neue Politik. 1993 wurde die Väterquote eingeführt. Eines der wichtigsten Instrumente norwegischer Politik, sagt Helga Hernes. Zehn Wochen der Elternzeit sind heute für den Vater reserviert. Nimmt er sie nicht, verfallen sie.

Der Druck wirkte. „Eine große Kulturrevolution“, sagt Hernes. Männer lernten erst durch den Alltag, dass sie genauso sind wie Frauen: Sie lieben ihre Kinder, verzweifeln, wenn ein Baby schreit, und hassen es, wenn der Partner spät nach Hause kommt.

4. Schritt: Ziel ist eine Win-win-Situation. Aber manchmal kann keine Einigung besser sein als eine schlechte Einigung. Um herauszufinden, wie gut ein Ergebnis ist, stellt man sich die Frage: Was ist meine beste Alternative jenseits einer gemeinsamen Lösung?

Ein paar Wochen nach dem Tag auf dem Kinderbauernhof steht Micha Bohmeyer auf dem Dach eines Parkhauses in Berlin-Neukölln. Eine Gruppe Kneipenbesitzer hat hier oben Buden aufgestellt, Bänke gezimmert und Sand aufgeschüttet – für eine Bar. Bohmeyer feiert hier den vorläufigen Höhepunkt einer Karriere, die in der letzten Zeit einen steilen Verlauf nach oben genommen hat.

Er war nach der Elternzeit zunächst tageweise in sein kleines Unternehmen zurückgekehrt. Dann beschloss er, sich rauszuziehen und von dem Geld, das eine Internetidee von einst jeden Monat abwirft, zu leben. Knapp 1.000 Euro – ein bescheidenes Grundeinkommen. An seinen kinderfreien Tagen musste Bohmeyer nicht mehr arbeiten und war dadurch auch an den Tagen mit Tochter Meta entspannter. Er gründete den Verein „Mein Grundeinkommen“. Er sammelte per Crowdfunding Geld, um Menschen ein Jahr ein Grundeinkommen zu ermöglichen.

Der Zuspruch der vergangenen Wochen war enorm. Über 50.000 Euro kamen bereits zusammen. An diesem Abend sind achtzig Leute in die Bar auf dem Parkhausdach gekommen, um dabei zu sein, wenn die ersten vier Grundeinkommen verlost werden. Viele haben sich dafür beworben. Micha Bohmeyer hat in den vergangenen Wochen 14 Stunden täglich gearbeitet. Er hat wenig geschlafen. Aber er strahlt.

Suse Bruha sitzt ein paar Meter weiter zwischen Freunden, Meta wuselt um sie herum und klaut hier ein Stück Pizza, dort einen Schluck Brause. „Es hat sich einiges verändert“, sagt sie. „Ich habe Micha gebeten auszuziehen.“ Sein Chaos, die ungleiche Verteilung der Aufgaben, die Diskussionen – das raube ihr zu viel Kraft. Bleiben sie denn ein Paar? „Ein Paar? Was heißt das denn? Ich verbringe gern Zeit mit Micha. Was daraus wird – kann ich gerade nicht sagen.“

Bruha hat vor ein paar Jahren die Diskussion um die neue Emanzipationsfalle miterlebt, in die sich viele Frauen manövriert hatten. Für sie war der Begriff Latte-macchiato-Mütter entstanden. Frauen, die sich trotz guter Ausbildung nach der Geburt ihrer Kinder allein auf das Einkommen des Mannes verließen, um dann nach der Trennung zu merken, dass sie das ihre Unabhängigkeit gekostet hat.

Selbst im Fall einer Trennung würde das Modell von Suse Bruha und Micha Bohmeyer noch funktionieren: Beide Eltern haben eine sichere Bindung zu ihrem Kind, sie wechseln sich weiterhin 50:50 ab.

Es wird wohl nicht so anders werden mit zwei Wohnungen. Vielleicht sogar besser? Die Verhandlungen laufen.

Jana Petersen, 36, ist sonntaz-Redakteurin. Am Briefkasten ihrer fünfköpfigen Familie stehen drei verschiedene Nachnamen

Luise Strothmann, 28, ist sonntaz-Redakteurin. Sie lebt mit Freund und Sohn in einer WG

David Oliveira, 33, ist freier Fotograf in Berlin und ist gerade zum ersten Mal Vater geworden