Die Kunst des Nationalstaats

AUSSTELLUNG Seit 30 Jahren mischt das slowenische Kunstkollektiv NSK Exjugoslawien auf. Teil seiner Inszenierungen ist ein fiktiver Staat mit heute 14.000 Bürgern, dessen Pass Menschen aus Sarajevo rettete. Eine Retrospektive in Ljubljana zieht jetzt Bilanz

VON POLONA BALANTIC

Es war Herbst 1992. Seit Monaten kämpften im belagerten Sarajevo Tausende um ihr Überleben und für einen neuen Staat, um sie herum tobte der jugoslawische Bürgerkrieg. Die Menschen riskierten ihr Leben, wenn sie aus dieser Hölle zu fliehen versuchten – weil Bosnien und Herzegowina nur von wenigen Staaten anerkannt worden war, besaßen sie keine Papiere, mit denen sie hätten reisen können.

In dieser fatalen Situation kam ein möglicher Ausweg ausgerechnet in der Form eines fiktiven Staates, dem „NSK-Staat“ und seinen Insignien, dem NSK-Reisepass. Keine 400 Kilometer von Sarajevo entfernt, in Slowenien, hatte das Künstlerkollektiv Neue Slowenische Kunst (NSK) ihn gegründet. Den Pass konnte man sich per Post kommen lassen. Es mag unglaubwürdig klingen, aber tatsächlich ist es während der fast vierjährigen Belagerung einigen Menschen gelungen, mit einem solchen Pass den Kessel zu verlassen. Das lässt sich zum Teil damit erklären, dass das Design des fiktiven Dokuments diplomatischen Reisepässen nachempfunden war. Die Überzeugungskraft lag aber auch in der professionellen Herstellung – die Pässe kamen aus der Druckerei Cetis Celje, die Reisepässe der Republik Slowenien druckte.

Aber nicht nur im Chaos der Bürgerkriege fielen Beamte auf den NSK-Reisepass herein. Als zum Beispiel der bosnische Maler Edin Numankadic 1996 zu einem Festival in Südkorea eingeladen worden war, hatte er kein Visum bekommen. Er reiste trotzdem nach Seoul. Am Flughafen wurde ihm der Eintritt in den Staat verweigert. Erschöpft vom Krieg zog er das NSK-Dokument aus der Tasche – die Grenzbeamten erblickten die Inschrift „NSK Diplomatic Passport“, entschuldigten sich und – so geht die Legende – chauffierten ihn sogar ins Hotel.

Was aber hat jene Gruppe slowenischer Künstler überhaupt dazu gebracht, einen Staat zu gründen? Das politische Kollektiv NSK gab es bereits seit 1984. Schon früh hatte es mit seinen genreübergreifenden Interventionen Kultstatus in Jugoslawien erlangt. Sicher war „NSK – Staat in der Zeit“, so der vollständige Name, dann ein Versuch, sich nach dem Zerfall Jugoslawiens mit der Frage nach der Zukunft des Nationalstaates auseinanderzusetzen. Für die kaum dreißigjährigen Künstler war klar: Die Zukunft liegt in einer überstaatlichen, postnationalen Gesellschaft. Dazu gehörte der Verzicht auf das Territorialprinzip und die Nationalökonomie. Also gründete NSK einen Staat, dessen Prinzipien „Ästhetik“ und „kritisches Denken“ lauteten, einen Staat, der allen offensteht, nicht nur jenen, die qua Geburt zur Gemeinschaft zählten. Das Modell hatte weit über die Kunstszene Erfolg: Heute besitzen fast 14.000 Personen einen NSK-Pass – aus Interesse an der Kunst, als politisches Experiment – oder weil sie an die tatsächliche Existenz des NSK-Staates glauben.

Was 1992 mit den ersten Aktionen der vorrübergehenden Einrichtung von NSK-Botschaften – 1993 wurde auch die Berliner Volksbühne kurzzeitig zum Territorium des „NSK-Staates Berlin“ ausgerufen – seinen Anfang genommen hatte, war zugleich das Ende und die Fortsetzung der Geschichte der NSK und ihrer Transformation vom Kunstkollektiv zum Staat.

Seit Mitte Mai ist nun in der Galerie der modernen Kunst in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana ein Querschnitt der Arbeiten des Kollektivs zu sehen. Unter dem Titel „Vom Kapital zu Kapital – Neue Slowenische Kunst – Ein Ereignis des letzten Jahrzehnts Jugoslawiens“ hat Zdenka Badovinac, Direktorin der Galerie, die Monumentalausstellung zusammengestellt. Dort bekommt man einen guten Einblick in die extrem vielschichtige Kunstbewegung und ihre drei Untergruppen: das multimedial arbeitende Musikkollektiv Laibach, die Maler IRWIN, und das Theater der Schwestern Scipion Nasice (heute Kosmokinetisches Kabinett Noordung).

Dass all jene sich ausgerechnet im Jahr 1984 als NSK zusammengeschlossen hatten, war aber kein Zufall, wie es die Ausstellung nahelegt. Die Assoziation mit George Orwell ist tatsächlich naheliegend. Durch die Methode der „Überidentifikation“ – so nannte es der Starphilosoph Slavoj Zizek – hatte NSK den totalitären Kern des sozialistischen Jugoslawiens zu entlarven versucht. Am aufsehenerregendsten war wohl ein überarbeitetes Poster des Nazikünstlers Richard Klein, auf dem sie die NS-Insignien durch jugoslawische ersetzten und einen staatlichen Preis gewannen – ein Skandal.

NSK versuchte immer wieder, das System mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Die Collagen und Gemälde von IRWIN, die in der Galerie zu sehen sind, die Theaterstücke von Regisseur Dragan Zivadinov und auch die Songs von Laibach zitieren die politischen Gremien Jugoslawiens oder andere totalitäre Regime genauso wie die Popkultur. Denn auch die NSK versteht Pop als Sprache des globalen Kapitals. Die Arbeitsweise des Kunstkollektivs bezeichnet die Kuratorin Badovinac als „den Anspruch von NSK auf den Staat“. Die Künstler hätten sich, schon als es erste Hinweise für ein Auseinanderbrechen Jugoslawiens gab, „als (neue) Herrscher inszeniert“. „Sie haben eine neue Ordnung vorgeschlagen. Die wurde in der Form von NSK, eines Kunststaats, realisiert“, sagt Badovinac.

Heute ist NSK vor allem die bekannteste „Trade-Mark“ der slowenischen Kunst. Und das ist ziemlich ironisch: Ausgerechnet ein Kunstkollektiv, das in den Achtzigern mit dem totalen Verzicht auf Individualität (die Werke von NSK werden nicht namentlich gezeichnet) auch den Kunstmarkt und sein Starprinzip angriff, produziert seit Jahren die kommerziell erfolgreichsten slowenischen Künstler.

Letztlich ist NSK eine Ware, die sich gut vermarktet – und genauso verhält es sich mit den Reisepässen, deren Verkauf zuverlässig für Einnahmen in die NSK-Staatskasse sorgt. Die Texte zur Ausstellung sind darum mit Vorbehalt zu betrachten. Badovinac erklärt zwar, NSK habe sich früh gegen die Logik des Kapitalismus gewendet – vor allem mit den drei Projekten unter dem Titel Kapital (ein Album der Musikgruppe Laibach, eine Gemäldeserie von IRWIN, einem Theaterstück des Kosmokinetischen Kabinetts Noordung), mit denen sie Anfang der Neunziger beinahe hellseherisch die Unterwerfung der Slowenen (und EU-Europäer) unter die kapitalistische Logik vorausgesehen hatten. Aber mit genau jenem Projekt unterwarf sich auch NSK der kapitalistischen Logik – ihre Weiterentwicklung war eine zur Marke.

Mit dem Kapital-Kapitel schließt also die Geschichte der Kunstbewegung NSK und es beginnt die des NSK-Staates. Doch diese Geschichte geriet, gewollt oder ungewollt, außer Kontrolle der Künstler: Die Bürger des NSK-Staates selbst nämlich nahmen sie in ihre Hände. Und genau dies war ja eigentlich der Grundgedanke – der Staat sollte seinem Volke dienen. Beweis dafür ist der NSK-Reisepass. Als Kunstobjekt konzipiert, haben die Bürger ihn ins reale Leben geholt. Im Mai 2007 sah sich das Auswärtige Amt Sloweniens gezwungen, folgende Meldung auf der Internetseite zu veröffentlichen: „Wichtige Information! Der NSK-Reisepass ist kein offizieller slowenischer Reisepass.“ Später wurde ergänzt: „Der Besitz eines NSK-Reisepasses gestattet keinen Eintritt in den Schengenraum.“

Grund für diese „Enttarnung“ des Kunstprojekts war die steigende Zahl von Bewerbungen um einen NSK-Reisepass. Mehr als 2.000 Nigerianer hatten sich in jenem Jahr an NSK, einige direkt an die Republik Slowenien gewendet. Es hatte ein Gerücht über die erfolgreiche Einreise in die EU gegeben – aber vermutlich kannte keiner der Bewerber das Kunstkollektiv NSK.

Die Neue Slowenische Kunst war eine Antwort auf Krieg und Krise in Jugoslawien. Das ist nun Jahrzehnte her. Heute ist Südosteuropa wieder ein Krisengebiet, Tausende Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer, die Grenzen sind unüberwindlich wie nie. Eine Kunst aber, die den Staat und seine Mauern kompromisslos angreifen würde, sucht man derzeit vergeblich.

■ „Neue Slowenische Kunst: From Kapital to Capital“. Bis 16. August. Moderne Galerie Ljubljana