die wahrheit: Hinter duftenden Wildrosen

Tage des geheimnisvollen Brauchtums: Das Blankeneser Armeschluckerschlagen

Für das Fest lassen die Blankeneser stets frische Nichtsnutze aus dem Umland aufgreifen. Bild: ap

Es ist kurz nach zwei Uhr mittags. Ein Wind wie Champagner weht Schaumwölkchen über den Kristallhimmel. Purpurn glühen Rhododendron und Backstein in der Frühlingssonne. Auf den Blankeneser Elbterrassen, wo der Blick über Millionärsvillen, Strandpromenade und den mächtigen Strom schweift, begreift man das notorische Bonmot: "Gott würde hier wohnen. Wenn Er es sich leisten könnte!" - "Und warum kann Er es sich nicht leisten?" - "Weil Er keinen guten Steuerberater hat!"

Über solche Scherze lacht der Blankeneser, wenn er zum Lachen in den Keller geht. Was aber nicht oft vorkommt. Die Keller sind weitgehend frei von Blankenesern. "In den Keller gehören Kartoffeln", sagen die Bürger aus Hamburgs goldenem Westen. Außerdem verwahrt hier jeder, der etwas auf sich hält, heimlich mindestens eine Leiche im unteren Geschoss.

Tausende Einheimische haben sich heute in den Gässchen und Gärtchen der Elbterrassen eingefunden, um einen uralten Brauch zu feiern: Der dritte Sonntag im Mai ist seit vielen Generationen Jour fixe für das "Blankeneser Armeschluckerschlagen". Überall locken Verkaufsstände, Trinkzelte und Imbissbuden. Die einen bieten Keulen, Pritschen und Prügel aus "Ia-Treibholz mit rostigen Nägeln" feil. Dort wird die "Lüttje Lage" (Patatenschnaps mit Steckrübenbier) serviert. Und hier der "Sülldorfer Labskaus", ein Püree aus Narwalhirn, Kartoffelschalen und Rosa Bete, garniert mit Möwenspiegeleiern.

Der größte Andrang aber herrscht am Stand von "Breckwoldts Schuppentiere". Nur hier gibt es die Leibspeise der Eingeborenen: Aalschleim mit Störeiermus. "Wir fressen nicht alles", bemerkt ein Alteingesessener. "Aber wir fressen alles, was sonst niemand fressen würde!" Hauptsache, dass es nach "blanker Neese mit n lütt beten Schnöf" schmeckt. Trotz des üppigen Angebots haben viele Feiernde sich selbst einen Happen mitgebracht. Hinter duftenden Wildrosenbüschen wird ein ängstlich bellendes Robbenbaby herumgereicht. Millionärserben und Bananendampfreeder rammen die Reißzähne ins warme Fleisch. Nur eine Frau in Jil-Sander-Kostüm scheint unzufrieden: "Etwas Bärlauch würde nicht schaden", sagt sie und tupft das Mündchen mit handsignierten Lagerfeld-Tissues ab. "Zugereiste Naseweise", keift eine Greisin, die sich als Rektorin des Elisabeth-Flickenschildt-Lyzeums vorstellt. Heulerblut rinnt von ihrer bleistiftstrichschmalen "Blankenese-Lippe" in den Gorillahaarschal: "Das haben wir nur dieser vermaledeiten Globalisierung zu verdanken!"

Von der das "Blankeneser Armeschluckerschlagen" bislang nicht verdorben worden ist. Zu den Klängen der allseits beliebten "Polonäse Blankenese" und unter großem Hallo führt man die Bedürftigen des Viertels (das heißt: zufällig aufgegriffene Nichtsnutze aus dem Umland; in Blankenese sind Bedürftige seit 1851 verboten) in einen Verhau hinter der Horst-Janssen-Villa. Hier hat der Maler bis zu seinem Tod 1995 regelmäßig Bacchanale aufführen lassen, bei denen die Elenden Hamburgs lebende Kulisse spielten. "Er war eben ein echter Blankeneser. Nicht von Geburt - aber vom Geist!", schwärmt die Rektorin.

Punkt 16 Uhr ist es so weit: Annett Louisan, seit 2006 begeisterte Bürgerin des Nobelvororts, lässt die Bluthunde los, die der örtliche Lions-Club gestiftet hat, und quiekt mit einer Stimme, die noch kleiner ist als sie selbst (1,50 Meter): "Die wollen doch nur spielen!" Die verhärmten Gestalten, die aus Janssens Garten taumeln, werden mit Tritten, Hieben, Bissen und Backpfeifen begrüßt. Ein zufälliger Passant könnte die vielen Ohrfeigen durchaus mit Applaus verwechseln. Aber hier gibt es keine zufälligen Passanten. Dafür sorgt die "Schutztruppe", die der sogenannte "Nazi-Anwalt" Jürgen Rieger organisiert hat. Auch er ein Blankeneser durch und durch, wie die Umstehenden gern bestätigen.

Zehn, zwanzig, dreißig, fast hundert Dropouts torkeln vorbei. Schwere Knüttel prasseln hernieder und die ein oder andere zarte Damenfaust in Gepardenleder. Was, fragen sich Ortsfremde, soll dies brutale Ritual? Jan-Philipp Reemtsma, Multimilliardär und Blankeneser, erklärt: "Diese Sitte ist zweifellos ein Fall für mein Institut für Sozialforschung. Mit Dialektik der Aufklärung hat die Sache allerdings nichts zu tun - das werden meine Leute schon beweisen. Tun sie sonst doch auch." Dann beißt er genüsslich in eine Tümmlerwurst. Aus dem nahen Nienstedten ist Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer zu den Festlichkeiten angereist. Dass ihr neuer Roman "Errötende Mörder" vom "Blankeneser Armeschluckerschlagen" inspiriert sein könnte, weist sie weit von sich. Doch warum hält sie in der Dichterinnenhand einen starken Eichenast?

Wie eine Blutorange sinkt die Sonne überm Elbhang nieder, und bis in die Nacht ist das Wehgeschrei der Berber und Bettler weit über den Fluss zu hören. Gott, so viel ist sicher, wohnt nicht in Blankenese.

KAY SOKOLOWSKY

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