Männer jetzt auch krank

DEPRESSIONEN Vor einem Jahr nahm sich der Fußballtorwart Robert Enke das Leben. Seitdem dürfen auch Kerle Depressionen haben

Die Depression als Mode- und Massenkrankheit: Für Michelangelo war die Melancholie noch ein guter Freund

VON MARTIN REICHERT

Im November sollte es eigentlich verboten sein, über Nebel, Bestattungskultur und Depressionen Bericht zu erstatten. Solche Themen müssten im Mai stattfinden oder im Hochsommer. Der November ist an sich ja schon schlimm genug. Nun verhält es sich aber so, dass in der nächsten Woche der Todestag von Robert Enke ansteht. An einem Dienstag im November 2009 ließ sich der Fußballtorwart, von dem es einstimmig hieß, er sei der beste gewesen, von einem Zug überrollen. Robert Enke hatte an Depressionen gelitten und sich – im Gegensatz zu seinem Fußballkollegen Sebastian Deisler – nicht getraut, seine Erkrankung öffentlich zu machen.

Die Nation war erschüttert. An einem Sonntag im November wurde Robert Enke zu Grabe getragen, die Trauerfeier im Stadion seines Vereins Hannover 96 wurde von fünf Fernsehsendern live übertragen. Sogar die Bundeskanzlerin sah sich genötigt, der Nation tröstende Worte zu spenden: „Wenn man krank ist oder etwas nicht kann, sollte man es ruhig sagen.“ Worte, die trotz ihres wahren Gehalts hilflos wirkten, wie aus der Zeit gefallen, weil die Wirklichkeit nun mal ganz anders ist: Wenn McKinsey vorbeischaut, werden Kranke als Erste entlassen. Und etwas nicht zu können, das kommt bei Arbeitgebern nicht gerade gut an.

Der Freitod Robert Enkes blieb nicht ohne Folgen. Im Negativen zog er einen sogenannten Werther-Effekt nach sich. Laut der Deutschen Bahn stieg danach die Zahl der „Personenschäden“ vorrübergehend um das Zwei- bis Dreifache. Viele Lokführer, die unfreiwillig an solchen Suiziden mitwirken, leiden danach unter posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen Beeinträchtigungen bis hin zur Arbeitsunfähigkeit. Gab es auch weniger deprimierende Folgen?

Wenn es stimmt, dass Fußball eine der letzten Bastionen urtümlicher Männlichkeit ist, dann wurde diese durch den Tod Robert Enkes zumindest ein wenig angeschliffen. Ein Nationaltorwart ist so etwas wie die Wacht am Rhein, gusseisern, zu allem entschlossen. Er wehrt in letzter Sekunde ab, was andere verbaselt haben. Der Fußballtorwart ist ein Held, und wenn sogar solche Männer an Depressionen leiden, dann könnten sich theoretisch auch alle anderen eingestehen, dass sie nicht immer alles im Griff haben.

Fast pünktlich zum Todestag Enkes erschien nun der „Erste Deutsche Männerbericht“, eine Pilotstudie der Stiftung Männergesundheit und der Gesellschaft für Mann und Gesundheit. Der Hintergrund: In der patriarchal geprägten Medizin waren eher die Frauen(körper) Objekt der Pathologisierung, während das „starke Geschlecht“ dem männlichen Selbstbild entsprechend schlicht zu funktionieren hatte. Also per se gesund war. Insofern stimmt auch der Studienbefund, dass es sich bei den Männern um das „vernachlässigte Geschlecht“ handelt. So starben laut Studie im letzten Jahr fünfmal so viele Männer zwischen 40 und 50 Jahren an Herzinfarkt wie Frauen, Männer begingen dreimal so häufig Selbstmord, Alkoholismus und Depressionen würden weniger häufig erkannt.

In Bezug auf die Depression galt der Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Depression lange als wenig erforscht. Doch auch unabhängig von der aktuellen Studie gibt es wissenschaftliche Befunde. So erkranken Frauen zwar häufiger an Depressionen, Männer aber wählen häufiger den „Ausweg“ des Suizids. Die Männerdepression ist kein eigenes Krankheitsbild, wohl aber gibt es Unterschiede: So geht bei Männern das Gefühl der Herabgestimmtheit häufig mit erhöhter Reizbarkeit und Aggressivität Hand in Hand. Männer tendieren zudem stärker zur „Selbstmedikation“ mithilfe von Alkohol und Drogen, auch sportliche Exzesse sind eine häufige männliche Bewältigungsstrategie. Männer greifen zur Selbsthilfe, weil sie sich gar nicht getrauen, andere um Hilfe zu bitten und sich lieber an die als Kind erlernte Devise „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ halten.

Als spezifisch männlich gilt auch die narzisstische Grundthematik der Depression – während Frauen häufig an familiär oder partnerschaftlich strukturierten Konflikten leiden, dreht sich das Problem bei den Männern eher um die eigene Nase. Diese rigiden Rollenbilder sind allerdings längst im Wandel, und zwar derart, dass Vätern nun sogar eine Wochenbettdepression attestiert wird. Im Journal of the American Medical Associaton heißt es zum Beispiel, dass das Risiko für Männer, an einer depressiven Verstimmung zu leiden, besonders hoch ist, wenn die Partnerin hochschwanger ist oder gerade ein Kind geboren hat.

Die Tatsache, dass nun auch die Männer verstärkt in die Volkskrankheit Depression einbezogen werden, hat aber auch noch einen anderen Grund – und der betrifft Männer wie Frauen. Mit der medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung von Depressionen wird zum Beispiel sehr viel Geld verdient. In den angelsächsischen Ländern ist die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Antidepressiva längst Alltag während Deutschland noch Nachholbedarf hat. Der verstimmte Mann ist also wie die traurige Frau auch ein Kunde der Pharmaindustrie und der kooperierenden therapeutischen Berufsgruppen.

Ein Nationaltorwart ist wie die Wacht am Rhein, gusseisern, zu allem entschlossen

Die Depression als Mode- und Massenkrankheit: Für Michelangelo war die Melancholie noch ein guter Freund, David Caspar Friedrich unterstellt man nun posthum eine „unipolare Depression“. Es gilt das WHO-Klassifikationssystem ICD-10. Zudem gibt es mittlerweile fast so viele ursächliche Erklärungen für die Depression, wie es variierende Krankheitsbilder gibt. Liegt es am Stress? An den Hormonen? Genetisch? Alles chemisch oder doch elektrisch?

Fast schon sedierend ist es daher, sich dem Thema einmal diskursanalytisch zu nähern. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg zum Beispiel beschreibt in seinem Werk „Das erschöpfte Selbst“ das zunehmend kodifizierte Chaos der Depressionsforschung – man weiß eigentlich nicht so richtig, was man da behandelt – und kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der Depression um die Krankheit einer Gesellschaft handele, „deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative“. Übersetzt: Vor lauter Optionen und Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen (und zu müssen) verfällt der moderne Mensch in eine Angststarre.

Der Fußballtorwart Robert Enke war der beste und wollte es bleiben – und gleichzeitig war er voller Ängste, zu versagen. Er schien alles zu können, er war perfekt: Er war liebender Vater, sensibler Geist, knallharter Sportler. Er war alles auf einmal und konnte doch nicht mehr. Vielleicht ging sein Tod genau deshalb unglaublich vielen Menschen nahe.

Der Schriftsteller Jonathan Franzen wiederum erklärte kürzlich während einer Lesung in Frankfurt am Main, dass es sich bei depressiven Menschen um ausgesprochen unterhaltende Mitmenschen handele – das Geheimnis seines Erfolges? Es gibt vielleicht doch Hoffnung für den Menschen, das traurige Tier.