Ursachen von Übergewicht: Das egoistische Gehirn

Chronischer Stress könnte nicht nur für Depressionen verantwortlich sein, sondern auch für Übergewicht, Diabetes und Herzkrankheiten, besagt eine neue Theorie.

Das Gehirn verbraucht bei Gesunden mehr als 50 Prozent der Energie. Bild: dpa

Jeder, der Diäten ausprobiert hat, kennt das Phänomen: Je mehr Nahrung man seinem Körper verweigert, desto mehr Heißhunger verspürt man und desto übellauniger wird man. Der Abnehmerfolg scheitert in 90 Prozent der Fälle. Warum das so ist, erklärt der Wissenschaftler Achim Peters, der an der Universität Lübeck die Forschungsgruppe Selfish Brain leitet, nun ausführlich in seinem Buch "Das egoistische Gehirn" (Ullstein 2011).

Der Entschluss, weniger zu essen, setzt das Gehirn nämlich gehörig unter Druck. Es will auf Gedeih und Verderb seine Energieversorgung wahren. Dafür hat es ein ausgeklügeltes Regelsystem zur Verfügung: Gelangt bei einer Diät weniger Glukose ins Blut, versucht das Gehirn den Nährstoff anderswo aufzutreiben.

Über ein aktiviertes Stresssystem (Kortisol und Adrenalin) wird er aus den Speichern in Muskeln und Leber herbeizitiert. Wenn das nicht funktioniert, schickt er den darbenden Menschen auf Nahrungssuche, etwa zum Kühlschrank oder in den Supermarkt. Die vermehrte Freisetzung von Kortisol geht derweil mit gedrückter Stimmung einher. Erst wenn die Energiereserven wieder aufgefüllt sind, sinken die Stresshormone im Blut ab, und der Mensch fühlt sich wieder besser.

Dieser Egoismus des Gehirns ist nicht etwa Selbstzweck, sondern verschaffte uns stets evolutionäre Vorteile, meint Peters. In Zeiten der Gefahr und des Mangels - beides gab es in der Menschheitsgeschichte reichlich - musste gewährleistet sein, dass alle Energie in die Schaltzentrale gelangt. Das sicherte dem Homo sapiens in schlechten Zeiten das Überleben und hält ihn in guten Zeiten schlank.

Engergiefresser Gehirn

Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass das Gehirn im Vergleich zu anderen Organen und im Verhältnis zu seiner Masse den größten Anteil Energie verbraucht - bei Gesunden sind das mehr als 50 Prozent. Konkret: eine mit Zucker gefüllte Kaffeetasse täglich. Und bereits 1917 belegte die Pathologin Marie Krieger von der Uni Jena an Soldatenleichen: Bei extremem Nahrungsmangel schrumpfen alle Organe bis zu 40 Prozent, während das Gehirn gerade mal 2 Prozent an Gewicht einbüßt.

Dass das Gehirn sich dermaßen despotisch zeigt, hat nun laut der Selfish-Brain-Theorie von Peters noch zahlreiche andere Folgen. Und zwar dann, wenn die Gehirnchemie bei der Gewöhnung an chronischen Stress wie Mobbing am Arbeitsplatz oder schwelenden Familienstreits durcheinandergerät.

Dann schraubt es seinen Energiebedarf auf satte 90 Prozent der verfügbaren Glukose im Blut hoch, meldet Hunger, obwohl Fett- und Zuckerreserven doch reichlich gefüllt sind. Dies führt - angesichts ständig verfügbarer Nahrung - selbstverständlich irgendwann zu Fettleibigkeit, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ist Peters überzeugt. Diese Malaisen gehen also seiner Meinung nach auf eine Störung des Gehirnstoffwechsels zurück und sind nicht etwa Resultat mangelnder Disziplin.

Übergewicht als Schutz vor schlimmen Depressionen

Auch Depressionen können laut dem Lübecker Forscher dem Gehirn geschuldet sein: Bei einigen Menschen funktioniert die vermehrte Zuckerversorgung des dauerhaft gestressten Gehirns zwar gut, sie sind also meist schlank. Bei Niederlagen wird dieser Typ Mensch jedoch depressiv, weil körpereigene Beruhigungsstoffe nur schwach wirken und das Stresssystem sozusagen immer auf Hochtouren läuft. Übergewicht sieht Peters dabei allerdings als das geringere Übel, sozusagen als Schutzfaktor vor der "schlimmeren" Depression.

Seine Theorie hat der Wissenschaftler bereits 1997 formuliert und 2004 erstmals veröffentlicht. Rund 10.000 Studien belegen seine Thesen, schreibt er. Seine Ideen sind bemerkenswert, weil sie für bislang Unerklärtes endlich Antworten bieten. Bislang geht man etwa davon aus, dass die Reservespeicher ans Gehirn melden, wenn sie gefüllt sind (lipostatische und glukostatische Theorie), und daraufhin Sattsignale die weitere Nahrungsaufnahme verhindern.

Aber diese Theorien erklären eben nicht, warum Diabetiker trotz hohem Blutzuckerspiegel oder Übergewichtige trotz gefülltem Fettspeicher weiter essen. Darum erntet Peters auch viel Anerkennung, wird auf zahlreiche Fachkongresse eingeladen, um seine Theorien vorzutragen. Auch Manfred Müller, Vorsitzender der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, findet die Idee "interessant und attraktiv".

Den Gefühlshaushalt in Ordnung bringen!

Achim Peters zeigt in seinem Buch auch Möglichkeiten auf, wie man die Balance im Gehirn wiederherstellen kann: Mehr Sport und häufiger Gefühle hinterfragen, anstatt sie zu verdrängen. Weil der wichtigste Part der Gehirnentwicklung bereits im Mutterleib beginnt, müsse man auch auf das Gefühlsleben werdender Mütter achten. Und Übergewichtige und Diabetiker sollten in einer Therapie nicht etwa lernen, wie man das Verhalten ändert, sondern wie man den Gefühlshaushalt wieder in Ordnung bringt. Zudem rät Peters von anderen Substanzen ab, die in die Gehirnchemie eingreifen: Alkohol, Drogen oder niedrigkalorische Süßungsmittel.

Auch von häufig verordneten Arzneien wie Insulin und Sulfonylharnstoff hält der Experte wenig. "Die Auswirkungen der Insulintherapie sind beim Typ-1-Diabetiker durchweg positiv, beim Typ-2-Diabetiker fällt die Bilanz jedoch nicht so gut aus", schreibt der Forscher. Denn: Das Insulin ist beim Diabetiker ja schon in einem Dauerhoch, da das Gehirn nicht mehr in der Lage ist, die Insulinabgabe aus der Bauchspeicheldrüse zu unterdrücken - um so die Körperspeicher für weitere Energieabspeicherung zu verbarrikadieren.

Wenn nun aber zusätzlich noch Insulin von außen kommt, wird immer mehr Glukose in die Fettdepots geleitet, anstatt ins Gehirn - und dort fehlt sie dann. So führt das ständig hohe Insulin zu Gewichtszunahme und Unterzuckerkoma. Erhöhte Stresshormonspiegel können andererseits Schlafstörungen und Herzinfarkten bescheren.

Umstrittene Rolle des Blutzucker-Spiegels

In diesem Punkt erntet Peters jedoch Widerspruch von Diabetesexperten: "Es ist wichtig, den Blutzucker zu senken, um Folgeerkrankungen zu vermeiden. Wenn nötig geschieht dies auch mit Insulin, dessen Wirkungen und Nebenwirkungen seit 1922 bekannt sind. Man sollte Patienten nicht verwirren", meint Andreas Fritsche, Diabetologe an der Uni Tübingen und Pressesprecher der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG).

Auch der Ernährungspsychologe Christoph Klotter hat nicht nur lobende Worte für die Selfish-Brain-Theorie: "Mit einer Theorie, mehrere komplexe Erkrankungen wie Übergewicht oder Depressionen erklären zu wollen, ist absurd und typisch für die Naturwissenschaft. Diese Krankheiten haben aber nicht nur eine Ursache, sondern viele."

Trotzdem bleibt zu hoffen, dass Peters Ideen zu einer Entstigmatisierung Übergewichtiger beitragen. Zudem könnten entsprechende Therapiekonzepte helfen, Erkrankungen wie Adipositas und Diabetes Typ 2 zu verhindern, meinte man bereits vor zwei Jahren bei der DDG. Etwa indem man in Übergewichts- und Diabetikerschulungen vermehrt die Psyche mitbehandelt. In diesem Punkt muss auch Klotter zustimmen. "Das Thema Stress wurde bei der Erforschung von Übergewicht und Diabetes lange Zeit vernachlässigt. Diese Lücke schließt nun die Selfish-Brain-Theorie."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.