Eine Welt ganz aus Papier

ORIGAMI Aus Dollars werden Heuschrecken – zumindest im Atelier des Schweizer Künstlers Sipho Mabona. Mit seinen Händen erschafft er eine gefaltete Fauna

„Das, was man nicht festhalten kann, fasziniert mich“

SIPHO MABONA, ORIGAMI-KÜNSTLER

VON WALTRAUD SCHWAB

Mitten in einem Satz, der mit „die Heuschrecken“ begann, steht Sipho Mabona auf und sagt, er müsse seine Hände waschen. Er zeigt seine Finger, auf deren platinbrauner Haut eine schlammig grüne Patina klebt, abgefärbt von den fabrikfrischen Ein-Dollar-Geldscheinen, die er in seinen Händen knetet, die er dreht, faltet, knickt, in deren Hohlräume er seine Nägel oder das Falzbeil schiebt, um sie so spitz zu kriegen, dass sie aussehen wie Fühler, wie Finger, wie filigrane Flügel.

Sipho Mabona sitzt in seinem Atelier in einem schmalen Haus in der Altstadt von Luzern. Weiches Gesicht, dunkle Augen. Er faltet Heuschrecken, die er aus einem druckfrischen, ungeschnittenen Bogen mit zweiunddreißig Dollarnoten macht. Die Bögen gibt es zu kaufen – zum doppelten Preis des Werts der abgedruckten Scheine. Ungefähr zehn Stunden braucht er, um aus einem Dollarbogen eine Heuschrecke zu machen. Auf diese Weise vermehrt auch er, wollte jemand dieses so in Symbolik umgewandelte Geld kaufen, dessen Wert. Denn Mabonas Heuschrecken sind Kunst. Und: Sie kommen im Schwarm. Einhundertvierundvierzig gefräßige Insekten, auf deren Flügel George Washington prangt, sind es am Ende. An einem Dutzend von ihnen wird noch die Entwicklung zu erkennen sein. Zuerst nur Knicke, dann erscheinen die Flügel, danach auch der Kopf. Bis zuletzt alles da ist: vordere und hintere Sprungbeine, untere und obere Flügel, gieriges Maul. Ein Evolutionsprozess eben: vom Geld hin zu denen, die Geld auffressen. Der Heuschreckenschwarm wird im Frühjahr im American-Japanese National Museum in Los Angeles ausgestellt.

Mabona ist Origami-Künstler. Er versteht sich so, Kunst ist sein Weg, aber das Wort „Künstler“ findet er schwierig. Es klingt nach Akademie. Die hat er nie besucht. Seine Umwege sind andere: Primarschullehrer, Englischlehrer, angefangenes Psychologiestudium. „Wer ist Künstler?“, fragt er. Wenn er redet, mit Deutschen hochdeutsch, wie es die Schweizer halt tun, wirken die Vokale aufgestellt und gesungen. „Ich habe mich an Sachen orientiert, die meine Passion waren.“

Fossilien, Füchse, Faune

Künstler hin oder her, Fakt ist, dass er, ein Legastheniker, einer mit einem schwarzen Vater, alles logische Denken, die ganze Geometrie, dazu Ingenieurskunst, Physik und Biologie ins Papierfalten gesteckt hat. Mit Flugzeugen hat das angefangen. „Ja, als Kind war ich unkonzentriert. Nur beim Falten nicht.“ Und später? Andere büffeln fürs Abitur, er hatte mit neunzehn wirklich alle Papierflugzeuge, für die er Anleitungen fand, nachgebaut. Alle. Und nachdem er keine neue Vorlage mehr bekam, reifte sein Plan: „Ich wollte meine eigenen Flugzeuge entwickeln.“ So habe das begonnen. Nur dass es kein Studium gibt fürs Papierfalten.

Mabona hat trotzdem einiges geschafft. Fünf Jahre lang hatte er alles nachgemacht, was die japanische Origami-Literatur hergibt. Seine Gesellenzeit war das. Doch seit fünf Jahren entwickelt er alles selbst, was er faltet, seien es Flieger, Fossilien, Füchse, Fantasy-Figuren oder Faune. Er hat an Origami-Wettbewerben teilgenommen – als einer unter 30.000 Teilnehmern mitunter. Ohne zu siegen. Und er hat riesige gefaltete, begehbare Räume und lebensgroße Figuren gemacht. Nur aus Papier. Eine Auftragsarbeit für den Sportartikelhersteller Asics war der Einstieg. Die Geschichte der Firma in Papier. „So bin ich da reingerutscht. Glück eben.“

Von den Werbehallen aus schaffte er es in die Kunsthallen – mit Papiereisbären etwa, die auf schmelzenden Eisschollen stranden, mit Vogelschwärmen, die in Fensterfronten fliegen.

Mabona holt eine Plastikkiste unterm Tisch hervor, zieht gefaltete Sachen heraus, einen Kugelfisch – weiß. Er bläst hinein. Der Kugelfisch wird groß wie ein Ballon. Dann entweicht die Luft wieder. Reinblasen, entweichen, reinblasen, entweichen – es wirkt, als atme das Tier. Unter Origami-Spezialisten gilt der Kugelfisch als spektakulärer Entwurf. Er hingegen ist auf anderes stolz. Den Trilobit, schlammigbraun – ein Fossil, von oben sieht er wie eine Assel aus, von unten wie ein Tausendfüßler. Man kann ihn kaufen. Er kostet. Ein Objekt aus Papier. Nicht aus Bronze. Seriell hergestellt. Wertvolle Wertlosigkeit. „Das, was man nicht festhalten kann, fasziniert mich“, sagt Mabona.

Ruhig sitzt der Einunddreißigjährige auf seinem Stuhl – nur seine Hände, seine Finger sind in Bewegung. Unter ihnen bekommt eine Heuschrecke Flügel. Neben dem Trilobit, erzählt er, finde er auch den japanischen Nashornkäfer, den er entwickelte, beachtlich. Mit dem bekomme er in Japan viel Anerkennung. Das sei für die Japaner so ein Glückstier wie der Kranich. Der Kranich ist Basiswissen, wenn es um Origami geht. Wer tausend Kraniche faltet, dem wird ein langes erfülltes, gesundes Leben geschenkt, so die Legende. „Senbazuru“, sagt Mabona – tausend Kraniche. Warum gerade tausend? Hundert seien schnell gefaltet. Und tausend? „Glück ist nicht for free.“ Sein eigener Vorname übrigens bedeutet „Geschenk“.

Sipho – ein Wort aus der Heimat des Vaters, der ehemaligen Transkei. Heute ist es ein Teil Südafrikas. Die Vatersprache sei eine Klicklautsprache. Mabona könne nur wenige Sätze: Isaapa – komm her. Schlalapansi – setz dich. Wensandoni – was machst du? „Sachen, die man zu Kindern halt sagt.“ Sein Vater war Anthropologe und Theologe. In der Schweiz dann Flüchtling, Englischlehrer und Krankentransportfahrer. Sipho Mabona hat ihn nie gefragt, wie es war, aus einer fortwährenden Unsicherheit auf eine Gesellschaft zu treffen, in der es so viele Sicherheiten gibt. Und er selbst? Er findet alles ganz nett in Luzern, aber manchmal sehne er sich nach Ungeordneterem.

In seiner Papiermodellwelt indes schafft er dank genialer Reduktion jetzt Ordnung. Die Tiere sind aus Papier, in Rot, Gelb, Weiß, allen Farben, aber das, was einen Tiger zu einem Tiger, ein Nashorn zu einem Nashorn, eine Heuschrecke zu einer Heuschrecke macht, ist trotzdem da. „Das Besondere so reduzieren, dass es als Typisches erkennbar ist, das ist Kunst“, sagt er.