Zwischen Euter und iPad

WANDEL Viele Kreative ziehen aufs Land – und schreiben darüber ein Buch. Wie Christoph Braun. Er war Popjournalist. Jetzt gräbt er Gärten um. Warum?

■ 41, ist Autor. Sein Buch „Hacken: Leben auf dem Land in der digitalen Gegenwart“ ist gerade erschienenFoto: M. Salzer

VON MARIA ROSSBAUER

Nicht nur von Berlin aus gesehen, aber doch im Besonderen von Berlin aus gesehen, ist Evessen ein kleines Dorf. Landkreis Wolfenbüttel in Niedersachsen, 1.300 Einwohner, Häuser aus Backstein, ein Metzger, ein Bäcker und ein Getränkemarkt mit einem Kiosk, der von 7 bis 21 Uhr geöffnet ist. „Fast schon ein Späti.“ Christoph Braun lächelt. Späti, so nennen Berliner liebevoll die Läden um die Ecke, in denen Zigaretten, Chips und Wein zu jeder Tages- und Nachtzeit erhältlich sind.

Ein bisschen Wehmut schwingt in seiner Stimme mit. Christoph Braun, 41 Jahre alt, die schwarzen Haare schon etwas grau, ist einer von denen, die rausgezogen sind, aufs Land. Nach Evessen. Erst in die Wohnung im alten Fachwerkhof, nun in das Haus mit Garten zur Miete.

In der Hauptstadt war Braun noch Popjournalist mit einem Atelier in Kreuzberg, er schrieb über neue Bands, textete für MTV, legte in Clubs auf und hetzte von Vernissagen in hippe Restaurants. Döner, Stoffbeutel, Caffè Latte.

Irgendwann nervte ihn all das. Vor allem: die Künstler, die nach Berlin drängten. Sie ließen seine Popwelt plötzlich so banal wirken und seine Spezifikation wenig speziell. Um zu sehen, was über den Stadtrand hinaus existiert, zog er weg. Mit Freundin und Kind. Heute gräbt er Gärten um, er füttert Schafe, kocht zu Hause und denkt über unterschiedliche Lebensentwürfe nach.

Aus seinen Stadt-Land-Gedanken ist zunächst ein Blog entstanden, und dann – wie auch bei so manchem Moderator oder Tatortkommissar in letzter Zeit – ein Buch. So scheinen sich manche Menschen allein aufgrund eines Standortwechsels zur Autorenschaft berufen zu fühlen, vielleicht, weil sie so überrascht sind von Land, Luft, Platz, grüner Wiese und richtigen Tieren. Oder aber die Einsamkeit auf dem Land lässt erstmals klare Gedanken zu, die sich dann in Geschriebenes verwandeln lassen. Christoph Brauns Buch jedenfalls heißt „Hacken“. Sein Verlag Tropen.

Mit einem Ruck und beiden Händen stößt Braun gegen einen mannshohen Strohballen, bis er ein paar Meter weiter rollt, über matschiges Feld und Maulwurfshügel: Die Schafe brauchen frisches Stroh in ihrem Unterstand. Braun arbeitet regelmäßig für den Bauern, dem sie gehören. Ein wenig zaghaft stemmt er dann einen Kartoffelsack in die Höhe, die Hände gepflegt, keine Wunden, keine Hornhaut. Bücher- und Tastaturenhände. Die Schafe kommen gelaufen, gucken zu den Kartoffeln rüber. Määäh.

Seit er hier ist, sagt Braun, achtet er mehr auf die Herkunft der Produkte, die er konsumiert. „Vielleicht, weil man täglich Kühe und Schafe sieht und sich so eher fragt: Wie geht es denen eigentlich?“ Er gebe nun wesentlich mehr Geld für Essen aus. Freitags bekommt Braun, wie viele hier, eine Kiste geliefert mit Obst und Gemüse aus der Gegend. Und regelmäßig geht er in den Laden auf dem Biobauernhof, wo gerade die Hühner übers Gras laufen. Braun beugt sich zu den Getränkekisten auf dem Boden und stellt leere Milch- und Bierflaschen hinein. Er kauft Bioapfelsaft für 2,30 Euro, Schokolade, Löwenzahngemüse und Kartoffeln, dies noch, das noch – 30,50 Euro insgesamt. In Berlin wäre er einfach in den Plus gegangen, hätte sich von industrieller Normgeometrie ernährt, schreibt er in seinem Buch.

„Ich koche hier viel mehr“, erzählt Braun, „also nicht nur Nudeln und Soße.“ Verfällt man auf dem Land in eine heimelige Kochstimmung, weil das alle tun? Oder ist das nächste Restaurant bloß zu weit weg? „Beides ein bisschen“, sagt Braun.

Er spricht langsam und mit Pausen, verschränkt die Arme dabei. Dass er hier doch irgendwie der Städter ist, ist kaum zu übersehen: braun-weiße Turnschuhe, hochgekrempelte Jeans, gelbe Socken, auf dem Rücken einen Wanderrucksack, um den ihn Hipster beneiden würden. Trotzdem: Sein Kleiderkonsum hätte sich verändert, seit er auf dem Land lebt. „Früher hab ich mehr auf Modelabels geachtet“, sagt Christoph Braun. Das sei ihm nun nicht mehr so wichtig. Hier ginge es ihm um Materialien. Darum, dass Dinge Bestand haben.

Obwohl heute jeder alles online bestellen kann, inklusive Fairtrade-Mode. Schließlich wühlt auch Braun jetzt nicht mehr in Plattenläden, er bestellt Musik im Internet und klickt sich durch Amazon. Ein paar Frauen aus dem Umkreis, so schreibt er in seinem Buch, nutzen das Netz auf ganz andere Art. Hin und wieder trifft sich das Grüppchen, um eigene Ebay-Auktionspreise in die Höhe zu treiben. Bietest du bei mir, biete ich bei dir.

Irgendwann nervte ihn Berlin. Vor allem: die Künstler, die in die Stadt drängten. Sie ließen seine Popwelt plötzlich so banal wirken

Der Wind pfeift über das flache Land. Am Morgen radelte der Exberliner noch in einer Fahrraddemo von Evessen nach Lucklum, ins Nachbardorf. Die Bürger fordern hier einen Fahrradweg. Zu schnell fahren die Autos auf der Straße vorbei, mit zu wenig Abstand. „In Berlin hätte ich wohl so eine Demo nicht mitgemacht“, sagt Christoph Braun. Doch die Schule der Tochter, das eigene Haus, die nächstgrößere Einkaufsmöglichkeit, all das liegt einige Kilometer auseinander. Also interessiert man sich eben für Infrastruktur. Das scheint Braun selbst noch zu erstaunen. Und sicher: Manchmal fährt er zwar im Fahrradanhänger Einkäufe nach Hause. Doch auf das Auto zu verzichten fällt hier nicht mehr leicht.

Der Wind hat die Bohnenstangen im Garten des Bauern umgeworfen. Braun hebt sie auf und zupft braune Sträucher von rostigen Eisenstangen. Er hat sich in die Gartenarbeit verliebt, ganze Episoden lang beschreibt er in „Hacken“ die Trance beim Umgraben, beim Hacken. Ein Garten bedeutet für ihn die Freiheit von Warenströmen. „Es ist aber auch Schufterei“, sagt er. Ein neues Gefühl. So richtig körperlich gearbeitet habe er vorher noch nie.

Früher, schreibt er, hatte er Angst, Berlin zu verlassen. Die Angst zu verpassen. „Ich verpasse nichts“, sagt er jetzt. Schon allein, weil Überangebot auf dem Land kein Thema ist, man nicht ständig an Geschäften vorbeischlendert, die vorgeben, was man angeblich braucht. Entscheidungen zu treffen kann deprimieren: Wem sich eine große Auswahl bietet, der kann nicht alles wahrnehmen – und muss auf das Meiste verzichten. Von zwanzig Shampoos wird man wohl nur eines kaufen.

Christoph Braun bückt sich und hebt ein paar Kartoffeln auf, die beim Umfüllen auf den Boden gefallen sind. Er wirft sie in die grüne Kiste und sieht rüber zu den Schafen. „Ich bin hier einfach entspannter“, sagt er.