Die Empörung hat Geburtstag

OCCUPY Über 100.000 Menschen demonstrieren in Spanien gegen unsoziale Krisenpolitik. Polizei beendet Protest am Morgen

„Sie repräsentieren uns nicht!“, rufen die Demonstranten nach der Schweigeminute

AUS MADRID REINER WANDLER

Als die Turmuhr auf Madrids zentralem Platz, der Puerta del Sol, Mitternacht schlägt, erheben Zehntausende schweigend ihre Arme. „Stummer Schrei“ nennen die „Indignados“, die Empörten, ihr Ritual, seit sie am 15. Mai 2011 erstmals auf den Platz zogen.

Am Samstag mobilisiert die nach ihrem Gründungstag benannte Bewegung 15 M erneut. Sie protestiert gegen Demokratiedefizite und unsoziale Krisenpolitik. Nach taz-Schätzung kommen dazu in Madrid rund 100.000 Menschen zusammen, die Polizei spricht von 30.000. In Barcelona sind es nach Veranstalterangaben mehr als 100.000 Demonstranten, die Polizei schätzt hier die Zahl auf rund 45.000. Insgesamt gehen am Wochenende in etwa 80 spanischen Städten Menschen auf die Straße.

„Die Bewegung hat eine große Dynamik entwickelt“, sagt Jon Aguirre. Der 27-Jährige gehört zu der kleinen Gruppe, die vor einem Jahr unter dem Motto „Echte Demokratie jetzt!“ die Spanier per Facebook und Twitter erstmals auf die Straße brachte. „Ich hätte nie gedacht, dass wir ein Jahr später noch immer hier sind“, sagt Aguirre.

In Protestzügen aus allen vier Himmelsrichtungen sind die Menschen aus den umliegenden Gemeinden und Stadtteilen ins Madrider Zentrum marschiert. Die Bewegung, die anfänglich meist junge Menschen anzog, hat nun alle Altersgruppen erreicht. Auf der Puerta del Sol herrscht Feststimmung, mit Sambagruppen, Videoprojektionen, Pantomime und Clowns. „Wir haben keine Angst!“, rufen die Demonstranten immer wieder angesichts der rund 2.000 Polizisten, die in Kampfmontur aufmarschiert waren. Vier Tage, bis zum 15. Mai, sollen die Proteste in Spanien dauern.

Hintergrund ist der harte Sparkurs der konservativen Regierung, die alleine in diesem Jahr 37 Milliarden Euro streichen will, während die Banken mit Milliarden unterstützt werden sollen. 24,4 Prozent der Spanier sind ohne Arbeit, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent. „Sie repräsentieren uns nicht!“, rufen die Demonstranten in Madrid am Ende ihrer Schweigeminute.

Eigentlich hätten sie da gar nicht mehr auf der Puerta del Sol sein sollen. Das Innenministerium lehnte den Antrag auf eine viertägige permanente Versammlung ab und genehmigte die Proteste nur bis 22 Uhr. Doch die Empörten setzen sich über das Verbot hinweg.

Die Polizei greift erst um fünf Uhr in der Früh ein. Die passiven Widerstand leistenden Anwendenden werden vom Platz gezerrt, mindestens 18 Menschen werden festgenommen. Fast zeitgleich werden auch in anderen Städten die Plätze geräumt.

Auch in anderen Ländern protestieren am Samstag Menschen zum 15-M-Jahrestag. In Portugal gibt es Kundgebungen in allen großen Städten, auch in Athen wird demonstriert. In den USA und in Israel macht die dortige Occupy-Bewegung mobil. In London fallen die Occupy-Proteste derweil deutlich kleiner aus: Nur rund 300 Menschen ziehen zur St. Paul’s Cathedral, wo Occupy bis Februar ein Zeltlager hatte. Sie errichten Zelte vor der Bank of England, elf Menschen werden festgenommen.