WALTRAUD SCHWAB LEKTIONEN
: Zahl ohne Seele

Logarithmus – gelernt, vergessen, wieder erinnert. Den Hauptschulabschluss könnte ich noch schaffen

Es gibt ganze Zahlen, halbe Zahlen, negative und positive Zahlen, Dezimalzahlen und Brüche. Alles noch klar. Und es gibt Logarithmen. Das Wort erinnert an Logos und Rhythmus, aber ich sehe den Logos nicht. Vom Rhythmus ganz zu schweigen.

Professor Andreas Filler – mit grüngrauen Lehreraugen, die nicht loslassen – muss es richten. Er sitzt in einem Gebäude der Humboldt-Universität Berlin und tüftelt an der Didaktik der Mathematik. Er ist der Richtige, um mit mir – die ich mehr als dreißig Jahre nach dem Abitur in schlimmen Träumen immer wieder die Matheprüfungen machen muss – über Logarithmen zu sprechen.

Gleich am Anfang der Nachhilfestunde sagt Filler, Logarithmen seien eines der schwierigsten Themen im Lehrplan bis zur zehnten Klasse. Ich verstehe das so, dass er meint, ich könnte den Hauptschulabschluss noch schaffen, da Logarithmen vor der elften nicht vorkommen.

Was ich von Logarithmen denn noch weiß?, fragt er. „Mehr als meine dreißig Jahre jüngeren Kollegen“, sage ich. „Was genau?“ Dass man das Produkt von zwei Zahlen erhält, indem man deren Logarithmen addiert und zur erhaltenen Summe die passende Zahl aus einer Logarithmentabelle entnimmt, sage ich. Aber das Problem bleibt. Wie kommt der Logarithmus in die Zahl? Ist er die Zauberseele jeder Ziffer? Der Professor nickt wohlwollend – das mit der Addition stimme, das mit der Zahlenseele nicht.

Jetzt, da ich neben einem sitze, der weiß, was ein Logarithmus ist, will ich es wissen. Der Professor wirft die Angel aus. Er sagt: „Der Mensch empfindet logarithmisch.“ – „Oh“, sage ich. „Der Mensch logarithmiert seine Wahrnehmung“, setzt er eins drauf. Ich denke: „Ich logarithmiere, du logarithmierst …“

Der Logarithmus soll also nicht nur ein mathematischer Trick von Lehrern sein, der Logarithmus kommt im richtigen Leben vor? „Aber wie?“ frage ich.

Auf dem Tisch liegt ein alter Rechenschieber. Filler braucht ihn, um zu zeigen, dass der Abstand zwischen den Logarithmen sehr schnell kleiner wird. „Der Logarithmus flacht wahnsinnig schnell ab“, sagt er. „Und genauso empfindet der Mensch etwa Lautstärke.“ Oh.

Er zeigt auf eine Tabelle: Der Schalldruck im Ohr an einer Hauptverkehrsstraße ist etwa hundertmal so laut wie der bei einer normalen Unterhaltung. Tausendmal so laut ist ein Presslufthammer und 100.000-mal so laut ein Schuss in einem Meter Entfernung. Aber diese enormen Zunahmen nehmen wir nicht wahr. „Die physikalische Wirklichkeit können wir nicht linear abbilden. Dass ein Düsenflugzeug in dreißig Metern Entfernung zehnmillionenfach lauter als Blätterrauschen ist, das können wir uns nicht vorstellen. Wir verarbeiten es, indem wir logarithmieren.“

Dezibel seien ein logarithmisches Maß, das uns linear vorkommt. Für Lautstärke gelte das auf jeden Fall. Filler glaubt, auch für Helligkeit. „Der Logarithmus ist eingebaut in ein physio-psychisches System“, sagt er. „Ja super“, sage ich, „damit ist das Unberechenbare plötzlich ein Feld in der Mathematik, weil jeder ja individuell wahrnimmt.“ Dazu passt sein Satz: „Der Logarithmus macht aus den meisten Zahlen eine irrationale Zahl“ – also eine, die nicht aufgeht.

Das erklärt trotzdem nicht, wie der Logarithmus in die Zahl kommt. Aber das kapiere ich jetzt auch noch: Er kommt gar nicht in die Zahl. „Er macht was mit ihr“, sagt Filler, „er ist eine Funktion.“ Jede Ausgangszahl kann beispielsweise als eine 2[x]-Kombination dargestellt werden, also, wie oft man 2 mit sich selbst multiplizieren muss, um die Ausgangszahl zu erhalten. Der Logarithmus ist x.

Und dann sagt er noch etwas, das mich trösten soll, weil ich die Schülerin bin und er der Lehrer ist: Das Hauptproblem bei der Vermittlung von Mathe sei, dass es eine schweigende Übereinkunft gebe, dass man nicht alles verstehen müsse. „Aber gerade in der Mathematik, wo nicht alles, was gemacht wird, mit Anwendungen gerechtfertigt ist, muss um Verstehen gerungen werden.“ – „Ja“, sage ich, „ja“.

Die Autorin ist sonntaz-Redakteurin auf lebenslanger Lernmission Foto: Isabel Lott