Der innere Todfeind

Die Sprache der RAF und ihres Umfelds zeigt vor allem eines: den innigen Wunsch, sich von der eigenen Herkunft loszusagen.

Auf die Frage des von der Situation völlig überforderten Günter Gaus, ob er sich denn bewusst sei, dass die abstrakte Sprache der RAF-Verlautbarungen für die meisten Menschen schlicht unverständlich sei, antwortete Christian Klar: "Ich finds nicht so wichtig, eigentlich. Es wird auch etwas übersehen dabei, weil ein politisches Konzept, das auf Befreiung aus ist, hat guten Grund, abstrakt zu sein. Weil die konkrete Freiheit die Menschen, die aufstehen, selber ausfüllen müssen. Das mit der Konkretion, das habe ich oft auch als Sich-Anbiedern erlebt, also in den politischen Texten, und dann ist es überzeugender, den Vorwurf vom Abstrakten auf sich zu nehmen, wenn die Orientierung zielgerichtet ist." So gesagt in jenem berühmten, bedrückenden TV-Interview des Jahres 2001.

Klars Verteidigung der abstrakten Rede hat etwas gleichermaßen Gruselerregendes wie Aufklärerisches. Denn sie drückt, besonders augenfällig aus der abgeschotteten Gefängnisatmosphäre heraus, den zentralen Mangel der RAF aus: den an Konkretion, der letztlich einer an Erfahrung war.

Viele Selbstzeugnisse ihrer Protagonisten vor dem "Ausstieg" handeln von Gefühlen des inneren Abgestorbenseins, moralischen Taubheitserlebnissen und Ängsten, durch die nur wenige Jahre zurückliegende deutsche Geschichte vergiftet zu werden. "Denn in unserer Demokratie wirkt schon die schuldig-unschuldige Teilnahme an den Verbrechen des Nationalsozialismus wie Gift", schrieb Ulrike Meinhof schon 1961. Selbst das heißeste Leben schien wie stillgestellt. Gegen das übermächtige Gefühl dieser Prägung versuchte man sich in Autopoiesis, Selbstschöpfung, als Abgrenzung gegen die eigene Herkunft. Die Sprache jener, die so fühlten, orientierte sich am Salto mortale der negativen Vergemeinschaftung: Der primäre Impetus der RAF-Sprache ist nicht einer, der verbinden soll - sondern trennen.

"Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen" heißt das Motto des allerersten Positionspapiers. Was das beinhaltet, erschließt sich, hält man die öffentlichen Verlautbarungen der RAF neben den "privaten" Austausch während der Haft. Gerade die gruppeninternen Äußerungen sind sprachliche Dokumente eines Trennungswunsches: gerichtet darauf, etwas loszuwerden, "auszukotzen", ja zu vernichten. Etwas, das wie ein Feind im eigenen Inneren empfunden wird.

Meinhof stellt in einem Brief an Baader und Ensslin fest, "was hier bei mir Sache ist": "Meine Sozialisation zu Faschist, durch Sadismus und Religion, die mich eingeholt hat, weil ich mein Verhältnis dazu, d. h. zur herrschenden Klasse, mal ihr Schoßkind gewesen zu sein, nie vollständig aufgelöst, restlos in mir abgetötet habe Die Scheiße in meinem Wahn sich zur RAF verhalten, wie ich mich zur herrschenden Klasse verhalten habe: Arschkriecher; d. h. Euch behandeln wie Bullen, das heißt einfach: Selbst längst n Bulle sein."

Meinhof war nicht die Einzige, die mit diesem Selbstverdacht haderte. Helmut Pohl schreibt in Versalien vom "TODFEIND IN MIR SELBST" und Holger Meins spricht von der Notwendigkeit einer "revolution in einem selbst: in einem selbst die herrschende klasse stürzen (...) 'unter meiner haut beginnt das befreite gebiet, die selbständige rote macht'. selbstkritisch muss man die alte klasse, soweit sie einen noch beherrscht, besitzt und besetzt hält, rausschmeissen."

Dauernde Selbstreinigung

Die Selbstbeschreibungen und -anklagen wirken so, als gehöre ein Teil des eigenen Selbst immer "den anderen". Als sei einer Herkunft nicht zu entgehen, die einen immer wieder zurück ins Alte zieht. Diese "Selbstkritiken", so wird argumentiert, seien Mittel einer permanenten Selbstreinigung der Gruppe, die ihr die Kraft gebe, sich auch unter Haftbedingungen von der falschen Welt abzusetzen.

Doch gerade die gruppeninterne Auseinandersetzung wird von derselben Sprache der Trennung und Drohung beherrscht. Man schnauzt nicht nur sich selbst, sondern gerne auch die anderen an: "kapier das jetzt und kapier auch die mitleidsbrühe, die in jedem satz von deinem ding vorschwappt." Was sich die Gruppenmitglieder während der Haftzeit schreiben, hat nicht den Charakter kommunikativer Rede, sondern von Parolen, Anweisungen, Befehlen. Solchen, die man anderen, und solchen, die man sich selbst gibt.

Elias Canetti hat daran erinnert, dass der Befehl älter als die Sprache sei. Er wirke so autoritativ wie eine göttliche Macht, erlaube keinen Widerspruch und komme von außen. Jeder Befehl besteht, Canetti zufolge, aus einem Antrieb und einem Stachel. Der Antrieb zwingt den Befehlsempfänger zur Ausführung, der Stachel bleibt in dem zurück, der ihn schließlich ausführt: lebenslänglich. "Der Stachel ist ein Eindringling, er bürgert sich niemals ein. Er ist unerwünscht, man will ihn los sein. Er ist, was man begangen hat, er hat, wie man weiß, die genaue Gestalt des Befehls. Als fremde Instanz lebt er im Empfänger weiter und nimmt ihm jedes Gefühl der Schuld."

Der Befehl ist ein Introjekt, eine innere Wunde, die weiter eitert und nach Linderung schreit. Die einzig mögliche besteht darin, die Situation des Befehlsempfängers umzukehren. Die RAF-Sprache lebt vom Paradox, das Wesen des Befehls ins Intime zu wenden und zirkulär zu machen: Das, was laut Canetti von außen kommt, wird im Inneren errichtet, wechselseitig. Jeder kann in dieser Gruppenstruktur jeden anderen anweisen - und jeder ist doch zugleich ausführendes Organ einer "höheren Macht". Sprache als Austausch von Befehlen ist der endlose Versuch, den "Stachel" loszuwerden - und mit ihm die Schuld.

Der Diskurs ist eine Art stiller Post, sich durch zirkuläre Befehlsweitergabe zu entlasten. "du blöder idiot fängst sofort wieder an und machst weiter", herrscht Holger Meins den Genossen Grashof an, als er den Hungerstreik unterbricht: "es gibt keine schuldigen in der guerilla (.) nur entscheidungen und konsequenzen und ich sage eben weiter." Drei Tage vor seinem Tod diktiert Gudrun Ensslin demselben Meins kategorisch, wie man abzutreten habe: "Ohne zu trauern. Das - das Ziel. Du bestimmst, wann Du stirbst."

Die Kommunikation der Gruppe ist ein in sich kreisender Rundlauf von Befehlen, der verzweifelte Versuch, den Stachel loszuwerden, der aus der initialen Befolgung jenes "höheren Befehls" folgt, der sie einmal den berühmten Trennungsstrich ziehen ließ. Den Strich, der sie ermächtigte, zu töten, was sie für tötungswürdig erachteten. Die Sprache der RAF bildet als Dokument einer Freiheit, die sich vom Zwang der Rechtschreibung und des bürgerlichen Anstands emanzipiert wissen wollte, den verzweifelten Wunsch nach Trennung von der verdorbenen Herkunft ab.

Faible für das Vulgäre

Der zwanghafte Sturz ins Skatologische - die Sätze sind bevölkert von Schweinen, Arschlöchern, Fotzen und Bullen - ist Ausdruck der gefälschten "Überwindung" einer schlechten Tradition. Die bemühte Vulgarität verdeckt die Not des selbst gewählten existenziellen Befehls, der den angeblich alles legitimierenden Befehlsnotstand der Elterngeneration konterkarieren sollte.

Dieser Stachel saß tief. Die RAF-Sprache zeugt in jedem Satz vom Wunsch, sich seiner zu entledigen. Man hieß es Befreiung. Vom Bürgerlichen, was sonst. Das Faible fürs Vulgäre stand indes dem kleinbürgerlichen Horizont Bild lesender Stammtischfrondeure näher als dem vermeintlich revolutionären Proletariat. In ihrem ersten Manifest hatte sich die RAF höhnisch von linken Organisationen abgegrenzt, in deren Praxis sie "den Konkurrenzkampf von Intellektuellen" erkannte, "vor einer imaginären Jury, die die Arbeiterklasse nicht sein kann, weil ihre Sprache schon deren Mitsprache ausschließt". Offenbar ging die Verkennung so weit, das eigene Sprachgebräu für etwas zu halten, das die Arbeiterklasse wie göttliches Manna aufzunehmen bereit sein könnte.

Heute wirkt dieser kindliche Glaube an die Erweckungsfähigkeit des "Proletariats" rührend. Er zeigt die vielleicht stärkste wirkliche Beziehung, zu der die RAF fähig war: die Beziehung zu einem idealisierten theoretischen Konstrukt, einer Abstraktion. Dieser Abstraktion haben ihre Akteure weiß Gott vieles geopfert: viel Konkretion, viel Leben. Und so schließt sich überraschend ein Kreis, wenn Christian Klar am Ende des Interviews, nach seinen Zukunftserwartungen gefragt, eine Hoffnung nennt: "Die Hoffnung, zu Beziehung fähig zu sein."

CHRISTIAN SCHNEIDER, Jahrgang 1951, lebt in Frankfurt am Main. In der Edition Text + Kritik (München 2007, 278 Seiten, 29 Euro)erschien von ihm als Mitherausgeber das Buch "Das Böse im Blick. Die Gegenwart des Nationalsozialismus im Film"

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