Der Scheinriese RAF

1998 hat sich die RAF offiziell aufgelöst. Seitdem geistert sie als Gespenst durch die Medien. Und wird maßlos überschätzt

Das Buch ist dick wie ein Backstein, die Seiten sind eng beschrieben in der typischen artifiziellen RAF-Kleinschreibung. Es heißt "das info", ist vor zwanzig Jahren in einem Kleinverlag erschienen und enthält, redigiert von der RAF selbst, Briefe, Anweisungen, Befehle der RAF-Gefangenen in Stammheim. 1987 wurde es von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt, wegen Werbung für eine terroristische Vereinigung. Dabei tut das "info" nichts weniger als das. Es ist ein kaum lesbares, aber erhellendes Dokument über den Autoritätsterror im Innern der RAF. "du weißt nicht, was ein befehl ist", schreibt Gudrun Ensslin an eine Gefangene. Wer nicht spurt, muss Selbstkritik leisten. Helmut Pohl bekämpft den "Todfeind in mir selbst". Stets ist "das kollektiv" die Strafinstanz, der sich die Einzelnen zu unterwerfen haben. O-Ton Ensslin: "der körper, der die waffe ist, ist das kollektiv, einheit, sonst nix. [] jeder kann dabei sterben." So geht es seitenlang.

Der Kampf muss immer weitergehen, die Gemeinschaft darf jedes Opfer fordern, wer weich wird, muss bestraft werden. Das ist die immer wiederkehrende Botschaft. Klaus Theweleit hat in dem Essay "Ghosts" 1997 dazu scharfsinnig bemerkt, dass die RAF an sich selbst genau das exerzierte, was sie zu bekämpfen glaubte: den Drill, den faschistischen Geist der Elterngeneration. "Das Kollektiv wird immer gedacht wie ein einziger Körper, das ist ein Horror-Punkt aus dem Verhaltensrepertoire terroristisch familialer oder militärischer Kooperationen. Die Inhaftierten reden, als wären sie ein einziger zusammenhängender korporativer Über-Leib. Panische Wut und Draufschlagen, wo einer von ihnen etwas anderes auch nur andenkt."

Im Rückblick ist auffällig, wie stark der Linksterrorismus faschistische Motive zitierte - vom Genickschuss, mit dem Schleyer getötet wurde bis zum krassen Antisemitismus, etwa in Entebbe 1976, wo ein deutscher Linksterrorist half, israelische Geißeln zu selektieren. Die RAF war ein selbstermächtigter Aufstand gegen die Elterngesellschaft, der in Wiederholungszwang endete.

Die RAF hat mehr als 30 Menschen ermordet. In keiner noch so halsbrecherischen Dialektik lässt sich diesen Morden ein produktiver Sinn abgewinnen. Die "Politik" der RAF war von Beginn ein Amoklauf der Abstraktionen. Außer der Befreiung ihrer eigenen Aktivisten hatte sie nie ein konkretes, verhandelbares Ziel. Ihre Praxis hatte viel mit der Logik der Vendetta gemein, nichts mit der einer sozialen Bewegung.

Logik der Vendetta

Jan-Philipp Reemtsma meint zudem, dass der Motor, der die RAF in Gang hielt, nie falscher Idealismus war, auch nicht Ohnmacht, sondern blanke Lust an Macht- und Gewalterfahrung. Terrorgruppen, so Reemtsma, funktionieren erstaunlich ähnlich. In der Tat findet man bei den russischen Anarchisten, der RAF und al Qaida Verwandtes. Die Verachtung des Bürgerlichen etwa, den Glauben, Teil eines dichotomen Endkampfs zu sein, oder die Überbietungslogik, in der nur der Skrupellose als wahrer Kämpfer für die Sache erscheint.

Doch Mordlust erklärt die RAF nicht. Ohne idealistischen Gesinnungskern hätte es sie nie gegeben. Das macht die Mordpraxis keinen Deut besser - aber wer die RAF auf Charakterdefekte und Lust am Schießen verkürzt, macht sich dümmer. Die RAF kam nicht aus dem luftleeren Raum, sondern aus einem konkreten Kontext. Der Vietnamkrieg der USA erschütterte auch die Glaubwürdigkeit der bundesdeutschen Ordnung. Nach den Schüssen auf Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke schwirrten in der Bewegung Gewaltfantasien umher, die die RAF in die Tat umsetzte. Dies begründete das Jahrzehnte währende Desaster der "Sympathisanten", deren schlechtes Gewissen die RAF fortan weidlich ausnutzte. (Wobei heute keiner mehr "Sympathisant" gewesen sein will - dafür gibt es eine wundersame Vermehrung von Exlinken, die dreißig Jahre danach ganz böse auf die RAF sind.)

Die RAF, das waren aber auch die Kinder der bundesrepulikanische Wiederaufbau-Elite, von Professoren, Pastoren und Oberministerialdirigenten. Auch deshalb war die Wut der Elite auf die RAF so groß. Die RAF, die auf die Repräsentanten der Republik schoss, war unfassbar fern - und auch schrecklich nah. Gerade weil sie aus der Mitte der Gesellschaft kam, musste sie ausgesondert werden. So redet die CSU 2007 noch immer, etwas davon findet sich heute auch bei Exlinken wie Reemtsma wieder.

Doch der Linksterrorismus war nicht das fremde Böse, mit dem man nicht zu sprechen brauchte. Er war Teil der bundesrepublikanischen Familienromans. Er begann in der zerfallenden Studentenbewegung und endete nach der Selbstabwicklung des Realsozialismus. Die RAF löste sich 1998 auf, in einem letzten Aufflackern von Wirklichkeitssinn. Das war viel zu spät, ihre letzte Erklärung war moralisch dürftig. Aber sie war lernfähig. Sie hat ihre Fahne selbst eingerollt, nicht Staatsgewalt und Justiz haben sie zerschlagen. Im Gegenteil: Ihre Konspiration und Logistik waren so perfekt, dass kein RAF-Mord seit 1985 aufgeklärt wurde. Ihre Auflösung war, wie Antje Vollmer im taz-Interview (Seite 4 und 5) meint, auch ein Erfolg jener, die den Dialog mit der RAF suchten, um den verselbstständigten Krieg zwischen Staat und RAF zu beenden. Und dafür oftmals als RAF-Helfer diffamiert wurden.

Nicht die Härte des Staates und die Logik der Eskalation haben den Linksterrorismus beendet, sondern bessere Einsicht. Das ist eine Lehre aus der RAF-Geschichte. Sie mag banal klingen. Selbstverständlich ist sie nicht.

Seit die RAF abgetreten ist, hat sie eine erstaunliche Karriere gemacht - als Mediengespenst. Obwohl seitdem nicht viel Neues zu berichten war, wächst das RAF-Business in Schüben. Mit viel Geld werden Kinofilme gedreht, Zeitschriften mit RAF-Covern verkaufen sich blendend. Die Frage, ob Christian Klar nach 25 Jahren per Gnadenakt ein paar Monate Haft erlassen werden, rückte kürzlich in den Rang einer nationalen Debatte.

So erleben wir eine optische Täuschung. Die RAF rückt näher, je größer die zeitliche Distanz ist. Sie wird immer größer, je weiter sie weg ist, wie ein Scheinriese. Stefan Aust, Spiegel-Chef und Autor von "Der Baader Meinhof Komplex" meint z. B., dass die RAF "ohne Zweifel eine der wichtigsten Geschichten in Nachkriegsdeutschland war". Wirklich? So wichtig wie die Ostpolitik und die Anti-AKW-Bewegung, die Fünftagewoche, die Wiederbewaffnung und der Mauerfall? Die Hybris der RAF scheint auf ihre Interpreten abgefärbt zu haben.

Der aktuelle RAF-Hype ist Mittel einer Überschreibung, einer Übermalung von "1968". Die 70er-Jahre werden in Popkultur und Medien zum RAF-Jahrzehnt umgedeutet. Die sozialen Bewegungen, vom Kinderladen über den Feminismus bis zu den zivilisationskritischen Alternativbewegungen, schrumpfen zu Randerscheinungen, die von der Schlacht "RAF gegen Staat" überstrahlt werden. An etwas wird erinnert, anderes überblendet.

Nach diesem Zerrbild, an dem auch viele Exlinke mitzeichnen, ist "68" reiner Jugendirrsinn, der außer Terror nichts hinterlassen hat. Gewiss schlugen viele Weltbefreiungsschwärmeien damals in eine harte, totalitäre Tonart um, und zivile Errungenschaften wie Gewaltenteilung waren damals vielen schnurz. Doch hinter der ewigen Abrechnung mit "68" und dem medialen RAF-Hype steckt letztlich eine trübe alte Botschaft aus dem Ohrensessel: Alle Emanzipation endet in Gewalt, jedes utopische Denken führt zwangsläufig zu Terror.

1968 = RAF?

Wie wichtig war die RAF? Hat sie die Republik verändert? Der Staat reagierte in den 70ern oft hysterisch, Verteidigerrechte wurden über die Maßen beschränkt, RAF-Gefangene lange in Einzelhaft isoliert. Der Linksterror wirbelte das autoritäre Erbe der Republik auf, nicht nur im Volk, auch in der Elite. 1978, nachdem die Polizei den RAFler Willy Peter Stoll erschossen hatte, beglückwünschten viele Politiker den damaligen Innenminister Gerhart Baum zu dessen Entsetzen zu dem "Abschuss".

Die RAF wollte dem Rechtsstaat die Maske herunterreißen. Doch die liberale Substanz des Rechtsstaates hat den Deutschen Herbst überlebt. Nach 1977 kehrte die Republik zu ihrem Normalbetrieb zurück. Strauß wurde 1980 nicht Kanzler, die Diskussion über die Todesstrafe wurde ad acta gelegt.

Die RAF war nie so bedeutend, wie sie selbst glaubte. Sie wurde es, weil Politiker, die sich im Mark bedroht fühlten, den Fehdehandschuh aufnahmen. So entstand eine Perspektivverkrümmung, in der die RAF riesig schien.

Der Historiker Manfred Görtemaker widmet der RAF in seiner "Geschichte der Bundesrepublik" zwei Seiten. Von 788. Wahrscheinlich hat er recht.

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