US-Autor zu amerikanischen Frömmlertum: "Brauchen wir Jesus, um gut zu sein?"

Sam Harris, Autor der furiosen Streitschrift "Brief an ein christliches Land", spricht über moderate und fundamentalistische Gläubige und die Quellen der Moralität.

taz: Herr Harris, Umfragen zeigen, dass jeder zweite Amerikaner an die buchstäbliche Wahrheit der Bibel glaubt. So viele haben die Bibel ja wahrscheinlich nicht einmal gelesen.

Sam Harris: Man muss die Bibel nicht gelesen haben und kann trotzdem glauben, dass alles, was drinsteht, wahr ist. Das ist problemlos vereinbar. Natürlich kann man zweifeln, ob die Leute wirklich glauben, was sie vorgeben zu glauben. Aber die Umfragen sind eindeutig.

Sie schreiben nicht nur gegen die religiöse Rechte an, sondern gegen den Glauben als solchen? Es gibt ja auch moderate Gläubige. Was ist so schlecht an der Religion?

Oh, moderate Gläubige sind sicher besser als Fundamentalisten. Aber sie sind Teil des Problems. Der Respekt, den sie für ihren Glauben einfordern, macht es verdammt schwer, den fundamentalistischen Glauben zu kritisieren. Auch als moderater Gläubiger organisierst du dein Leben und das deiner Kinder rund um die Vorstellung, dass Jesus der Sohn Gottes war. Du bist überzeugt, dass die Bibel nicht ein normales Buch ist, sondern ein heiliges Buch. Wenn man das akzeptiert, dann ist es schwer, jene Leute zu kritisieren, die das nur etwas weiterdrehen - die etwa meinen, dass alle, die das nicht glauben, in der Hölle schmoren sollen.

Aber der durchschnittliche moderate Gläubige, zumindest in Europa, glaubt an einen Jesus, der die Liebe und Barmherzigkeit predigte. Also zwischenmenschliche Solidarität und viele andere guten Dinge können sich darauf berufen. Kann denn das Gute nicht das Schlechte aufwiegen?

Das ist der entscheidende Punkt: Das Gute wiegt das Schlechte nicht auf. Aber wichtiger noch: Wir brauchen die Religion nicht für dieses Gute. Brauchen wir schlechte Gründe, um gut zu sein? Es gibt doch genug gute Gründe, um gut zu sein. Müssen wir glauben, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde und zurückkommen wird, um die Welt zu retten, um gut zu sein? Ich bin fest davon überzeugt, dass man sich im 21. Jahrhundert vernünftig darüber unterhalten kann, in welcher Welt wir leben wollen, warum wir es für ethisch geboten halten, den Armen zu helfen.

Aber können nichtreligiöse Quellen des Moralischen generalisiert werden? Hat dann nicht jeder seine Moral?

Es gibt vor allem eine Quelle der Moralität: menschliche Konversation und Kooperationsgeist. Und unsere Intuitionen. Davon zehrt auch die religiöse Moral, nicht umgekehrt. Vieles, was sich als moralischer Imperativ in der Bibel findet, empfinden wir heute mit Recht als unmoralisch - etwa dass ein Mädchen, das in der Hochzeitsnacht keine Jungfrau mehr ist, gesteinigt werden soll. Wenn die Bibel sagt, tu niemandem etwas, von dem du nicht willst, dass man dir das tut, dann sehen wir das als moralisch richtig an. Aber das ist doch nur so, weil es den Intuitionen entspricht, die wir schon vorher hatten. Die Moral ist in uns, nicht in der Weisheit der Bibel. Diese Erwartung der Reziprozität findet sich sogar schon bei unseren Verwandten, den Primaten. Wir können heute schon erahnen, welche Gehirnregionen für Moralempfindungen zuständig sind. Der Punkt ist: Wir sollten den Wissenschaften mehr vertrauen als den Religionen.

Aber die Unmoral …

… ist sehr oft religiös begründet. Wenn heute in der muslimischen Welt Mädchen Opfer von Ehrenmorden werden, dann sind das unmoralische Taten. Und wer ist dafür verantwortlich? Die Religionen.

Die gläubigen Christen, die Sie kritisieren, sind doch nicht für die Modernisierungsprobleme der Muslime verantwortlich.

Zunächst ist ein Christ ein Christ aus dem gleichen Grund, aus dem ein Muslim ein Muslim ist - er wird in eine Religionsgemeinschaft hineingeboren.

Aber der Christ wird sagen: "Ich steinige niemanden, und ich begehe auch keinen Ehrenmord."

Gott sei Dank, nicht mehr. Auch Ketzer werden nicht mehr verbrannt. Das Christentum ist sicherlich an einem anderen Moment seiner Geschichte als der Islam. Viele Christen tun gute Dinge, helfen den Hungernden im südlichen Afrika. Aber sie predigen ihnen auch, keine Kondome zu nehmen; sie sagen, es ist eine Sünde. Und das in Dörfern, die von Aids verwüstet sind. Auch die medizinische Forschung wird von Christen beeinträchtigt. Hier wird verhindert, dass man das Leid von Menschen lindert. Auf der anderen Seite baut man moralische Verbote auf, ohne dass irgendjemandem Leid zugefügt würde. Nicht einmal die Kleriker behaupten, dass Homosexualität jemandem Leid zufügt. Wem entsteht ein Nachteil, wenn zwei erwachsene Männer sich lieben und heiraten?

Der Durchschnittskleriker würde antworten: Wir zwingen niemanden zu etwas. Wir erheben nur unsere Stimme. Was ist daran so schlimm?

Wenn sie keine Mehrheit haben, können sie niemanden zu etwas zwingen. Aber wenn sie eine Mehrheit haben, dann beginnen sie sofort damit. Sie haben die Stammzellenforschung verhindert. Sie erheben ihre Stimme, und das hat Folgen. Wenn man sie jedoch kritisiert, weichen sie aus. Denn Gläubige müssen sich ja dem Test der Rationalität, den jeder andere Argumentierende zu bestehen hat, einfach nicht stellen.

Sie haben Ihre Meinung, die Gläubigen haben ihre Meinung - warum sollen diese Meinungen nicht vertreten werden in der politischen Debatte? Es sind ja auch Meinungen von Bürgern.

Oh, es gibt kein Problem damit, dass sie geäußert werden. Das Problem ist doch, dass diese Meinungen dann über Kritik erhaben sind, weil sie religiöse Meinungen sind. George W. Bush hat gesagt, er hat die Irakinvasion befohlen, nachdem er sich mit dem Herrn konsultierte. Jetzt stellen wir uns einmal vor, er hätte gesagt, er hat den Irak überfallen, weil Saturn in einem günstigen Verhältnis zu Uranus stand. Man hätte ihn für verrückt erklärt.

Menschen haben nun einmal spirituelle Bedürfnisse, und der nackte wissenschaftliche Naturalismus kann ihnen nur schwer Sinn im Leben vermitteln.

Man kann das ein Bedürfnis nach Spiritualität nennen …

… zumindest wollen wir uns nicht als bloßes Resultat biochemischer Prozesse und synaptischer Verschaltungen sehen.

Wenn wir verstehen, wie das Bewusstsein funktioniert, heißt das doch nicht, dass das Nachdenken dieses Bewusstseins über "Sinn" obsolet wäre. Wenn wir wissen, wie "Liebe" funktioniert, heißt das doch auch nicht, dass Liebe nicht mehr schön ist. Wir wollen, dass unser Dasein uns als sinnvoll erscheint? Aber dafür ist es doch nicht nötig, dass wir Dinge behaupten, von denen wir nichts wissen können. Wir können sogar unser Leben verändern. Wir können an uns arbeiten, mehr Empathie für unsere Nächsten zu entwickeln, wir können glücklichere, bessere Menschen werden. Für all das brauchen wir keine Religion.

Noch eine andere Frage, die sicher viele interessiert: Hillary Clinton oder Barack Obama? Für wen schlägt Ihr Herz?

Also, wir würden mit beiden besser dastehen als mit dem, was wir in den vergangenen sieben Jahren hatten. Obama signalisiert der Welt einen totalen Neustart, was Clinton nicht so tun würde. Das wäre eine Botschaft, die es wert wäre, gesendet zu werden.

Und sind Sie, wie viele andere auch, persönlich von Obama ergriffen?

Nein. Er ist extrem talentiert. Er ist sehr klug und geschickt. Und den religiösen Illusionen der Amerikaner glauben beide schmeicheln zu müssen. Aber das ist nun einmal Amerika: Jeder, der zu diesem Thema auch nur etwas leise Vernünftiges sagt, der kann seine Karriere gleich begraben.

Sam Harris: "Brief an ein christliches Land". Deutsch von Yvonne Badal. C. Bertelsmann, München 2008, 96 Seiten, 9,95 Euro

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.