KOMMENTAR VON HEIKE HAARHOFF ÜBER DEN SKANDAL NACH DEM ORGANSKANDAL
: Reformen sind nötiger denn je

Die Liste der ethischen Absurditäten bei der Vergabe ließe sich endlos fortsetzen

Ein Alkoholiker mit schwerster Leberzirrhose, seit fünf Monaten und 29 Tagen trocken, hat in diesem Land – unmittelbar drohender Tod hin oder her – keinen Anspruch auf eine Transplantation. Ist er aber seit sechs Monaten und einem Tag abstinent, dürfen seine Ärzte ihn retten, ohne dafür Strafen zu riskieren. Eine Patientin, deren Krebstumor 5,1 Zentimeter misst, muss ohne neue Leber sterben. Wäre ihr Tumor nur 4,9 Zentimeter groß – sie bekäme eine Lebenschance.

Die Liste der ethischen Absurditäten bei der Vergabe von Spenderorganen ließe sich fortsetzen, egal ob für Lebern, Herzen oder Nieren. Ausgedacht hat sich dieses System die „Ständige Kommission Organtransplantation“, ein Hinterzimmerzirkel der Bundesärztekammer ohne demokratische Legitimation. Vor dem Hintergrund des Organmangels wollte sie Grenzen ziehen – manche sind, das zeigt sich jetzt, willkürlich, andere werden grob fehlinterpretiert.

Das rächt sich: Das Parlament, das die brutale Entscheidung darüber, wer leben und wer sterben soll, über Jahre feige abgewälzt hat auf Akteure, die dieser Aufgabe nicht gewachsen sein konnten, muss nun erleben, wie ebendiese Akteure ihre Macht womöglich missbrauchten. Wenn sich herausstellt, dass die Kontrolleure der Bundesärztekammer bei der Überprüfung der Leberzentren, nicht nur an der Uniklinik Münster, nach Gutdünken, persönlichen Vorurteilen oder sonstigen Regeln urteilten, die mit den Richtlinien zur Organvergabe nichts zu tun haben, dann droht nach dem Organskandal ein weiterer Vertrauensverlust: Nicht nur die Ärzte – die mancherorts unbestritten gepfuscht und betrogen haben – hätten ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Sondern ausgerechnet auch die Kontrolleure, die doch aufräumen sollten mit dem Pfusch.

Reformen sind nötiger denn je. Auf den Prüfstand müssen die Richtlinien, die in ihrer Kompromisslosigkeit der Lebenswirklichkeit von Patienten kaum entsprechen und die etwa bei Alkoholikern wenig mit dem Stand medizinischer Erkenntnis zu tun haben. Neu geordnet werden muss auch, wer die Regeln künftig aufstellen und überprüfen darf.

Wer diese Debatte zu unterbinden versucht aus Angst, es drohe ein weiterer Rückgang der Organspenden, der hat nicht begriffen: Die Menschen sterben nicht am Organmangel, sondern an ihren Krankheiten. Das ist, bei aller Brutalität, auch eine der Wahrheiten, über die es Zeit wäre zu sprechen.