„Hochtourig lernen“

Frühkindliche Bildungsprozesse sind äußerst komplex, sagt Forscherin Iris Nentwig-Gesemann

■ 45, Professorin für Bildung im Kindesalter an der Alice Salomon Hochschule in Berlin.

taz: Frau Nentwig-Gesemann, alle reden von frühkindlicher Bildung – was passiert in den Köpfen von Kleinkindern?

Iris Nentwig-Gesemann: Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaften zeigen, dass sich Entwicklungs- und Lernprozesse in den ersten Lebensjahren in unglaublicher Geschwindigkeit vollziehen – wir reden von hochtourigem Lernen –, komplex sind und zum Teil nicht nachgeholt werden können.

Sollten Kinder also am besten die erste Fremdsprache mit drei Jahren lernen?

Nein, es geht vielmehr um ganzheitliche Bildungsprozesse, um spielerisches und beiläufiges Lernen, ohne dass daraus Instruktionspädagogik wird. Wenn wir ernst nehmen, dass zum Beispiel Musik etwas mit Bewegung und Mathematik zu tun hat, können wir auf viele Förderprogramme getrost verzichten.

Welche Kompetenzen brauchen die Erzieherinnen?

Es braucht eine hohe fachliche Qualifizierung, bildungsbereichsübergreifende Verknüpfungen müssen hergestellt werden und die Methodik muss stimmen. Das Kind muss da abgeholt werden, wo es steht, das braucht Zeit und Freiraum, um kein Rezeptwissen anzuwenden. Klappt das, wenn man 15 oder 18 Kinder gleichzeitig betreut?

Nein. Idealerweise sollte sich eine Erzieherin um maximal vier Dreijährige kümmern, sind die Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren, sollten es höchstens acht sein. Es braucht zudem offiziell bereitgestellte Zeiten für die Vor- und Nachbereitung der Betreuung und Förderung.

Wie viel Verantwortung trägt die frühkindliche Bildung für die Herstellung von Chancengleichheit?

Viel. Ein Kind, das mit unzureichenden Kompetenzen in der deutschen Sprache in die Schule kommt, kann dort die Aufgaben nicht erfüllen – es versteht nicht, um was es geht. Die Schule ist nicht darauf ausgerichtet, diese Kompetenz nachzuholen. Im Kindergarten müssten für alle Kinder annähernd die gleichen Startchancen gelegt werden.

INTERVIEW: EVA VÖLPEL