Der Lobbyist der Armen

Hartz IV Ulrich Schneider kämpft dafür, dass bedürftige Kinder mehr Geld kriegen. Am Dienstag berät das Bundesverfassungsgericht darüber

Der Termin: Am Dienstag verhandelt das Bundesverfassungsgerichts, ob es verfassungsgemäß ist, dass Kindern 60 Prozent des Hartz-IV-Regelsatzes zugestanden wird. Die Kritiker regt vor allem auf, dass sich die Berechnung nicht konkret am Bedarf von Kindern orientiere, sondern pauschal festgelegt worden sei. Ein Urteil wird Anfang kommenden Jahres erwartet.

Das Geld: Bedürftige Kinder bis 14 Jahre bekamen bis Juli 211 Euro im Monat. Dann legte die große Koalition noch ein bisschen drauf: 6- bis 14-Jährige erhalten nun 251 Euro. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat ausgerechnet, dass unter 6-Jährige mindestens 276 Euro bekommen müssten, Schulkinder bis 14 Jahre 332 Euro und 14- bis 18-Jährige 358 Euro.

VON KIRSTEN KÜPPERS

Am Dienstag wird Ulrich Schneider in seinem Büro in Berlin am Schreibtisch sitzen und warten, dass die Journalisten kommen, die Kamerateams, die Fotografen. Dann wird er seinen Kopf ins Scheinwerferlicht halten und Sätze raushauen für die Mikrofone. Vielleicht hört sich Schneiders Funktion etwas behäbig an: Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Aber das kann er schon: knallige Sätze, die keinen Platz lassen für Eventualitäten. Und in der Angelegenheit, um die es nächste Woche in Karlsruhe gehen wird, ist er ja wirklich mehr als zuversichtlich.

Am Dienstag verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder. Derzeit erhalten bedürftige Kinder bis vierzehn Jahre einen Hartz-IV-Satz von 211 Euro. Der Staat hält diese Pauschale für ausreichend. Falls das Gericht sie als verfassungswidrig ablehnt, müssten die Beträge für Kinder erhöht werden.

Ulrich Schneider will unbedingt, dass bedürftige Kinder mehr Geld kriegen. Er kämpft dafür, und es sieht gut aus. Schon im Januar hat das Bundessozialgericht in Kassel befunden, dass die Sätze ungerecht sind. Schneider und seine Leute hatten ein Gutachten vorgelegt. Es wies nach, dass die Berechnungen willkürlich sind. Der Satz für Kinder bis vierzehn Jahre müsse angehoben werden, verlangte das Gutachten. Das Sozialgericht leitete den Fall zur Entscheidung nach Karlsruhe weiter. Damals hatte Schneider in die Mikrofone gerufen: „Eine schallende Ohrfeige für den Gesetzgeber!“ Er hatte gelacht dabei.

Schneider ist 51 Jahre alt und kommt aus Oberhausen. Das Ruhrgebiet hat er auch in der Hauptstadt nicht abgeschüttelt. In das elegante Büro hat er kritzelige Filzstiftzeichnungen seiner beiden Kinder gehängt, im Regal liegen ein Fußball und ein Paar Schienbeinschoner. Manchmal trägt er bunt gestreifte Hemden, meist ohne Krawatte, die Ärmel hochgekrempelt. Mit diesen Hemden, den runden, vorstehenden Augen und den breiten Koteletten könnte er sich auch hinter den Tresen einer Kneipe stellen. Nur dass sein rechter Arm eingegipst ist und sich über die Halbglatze eine Schramme zieht. Er ist von der Leiter gefallen, als er eine verstopfte Regenrinne sauber machte.

Heimkinder im Ruhrpott

Schneider selbst nennt sich Lobbyist. Hinter ihm und seinem Verband stehen von der linken Volkssolidarität bis zu den konservativen Freimaurern mehr als 40.000 Sozialbetriebe. Er kennt sich aus mit Kinderarmut. Er hat im Ruhrgebiet mit Heimkindern gearbeitet und in Münster Projekte mit Jugendlichen aus obdachlosen Familien geleitet. Und seit er 1988 beim Paritätischen Wohlfahrtsverband angefangen hat, regt er sich darüber auf, wie Politiker festlegen, wie viel Geld einem Kind zusteht.

Und es ist ja auch mehr als fragwürdig, wie diese Sätze berechnet werden. Der Satz für Erwachsene errechnet sich aus vielen Einzelposten. Dagegen hat die Politik nicht aufgelistet, was ein Kind braucht, sondern einfach entschieden, 60 Prozent des Erwachsenensatzes zu zahlen. So kann es kommen, dass einem Baby amtlich zwar 11,90 Euro für Tabak und alkoholische Getränke zugesprochen werden, jedoch nichts für Windeln. Für Kinder unter sechs Jahren hat man 62 Cent im Monat für Spielzeug ausgerechnet, für Schreibwaren und Zeichenmaterial 1,66 Euro, für Bildung gibt es gar kein Geld. Schneider zählt die Beispiele auf, er hebt den Gipsarm, die Stimme steigt hoch, sie quietscht fast, so absurd findet er die Situation.

Man könnte vermuten, einer wie er blicke derzeit nicht gerade froh in die Zukunft unter einer schwarz-gelben Regierung. Mit einer FDP, die unbedingt Steuersenkungen will und ein Bürgergeld, das ohne Zusatzzahlungen wie Wohngeld noch niedriger wäre als Hartz IV – und noch pauschaler. Man könnte denken, dass das Verfahren vor dem Verfassungsgericht für einen wie Schneider nur ein Anfang ist, das erste Scharmützel einer langen Schlacht.

Tatsächlich war er ziemlich überrascht am Abend der Bundestagswahl. Er hatte mit einer großen Koalition gerechnet. Als er dann abends im Wohnzimmer saß und im Fernsehen die Hochrechnungen sah, kramte er aus einer Schublade das FDP-Programm heraus. Er blätterte und las. Und entspannte sich. „Ich hab eine ganze Reihe von Berührungspunkten gefunden“, erzählt er. „Bei der Erhöhung des Kindergeldes, bei den Behindertenrechten, bei der Bildung.“

Pragmatisch mit der CDU

„Wir werden auch mit der CDU pragmatisch zusammenarbeiten“

Ulrich Schneider

Vielleicht redet Schneider sich da in einen schönen Optimismus hinein. Vielleicht ist er einfach ein pragmatischer Mensch. Er sagt: „Ich denke, dass wir auch mit der CDU pragmatisch zusammenarbeiten werden. Die haben sich selbst ja nie so identifiziert mit den Hartz-IV-Gesetzen. Mit etlichen Sozialpolitikern von der CDU ziehen wir da längst an einem Strang.“

Und das Bürgergeld? Der befürchtete soziale Kahlschlag? Schneider lehnt sich zurück. „Ich denke nicht, dass sich die FDP hier gegen die CDU durchsetzen wird“, sagt er. „Dass das Bürgergeld kommt, halte ich für völlig ausgeschlossen.“

Man kann sich über so viel Unvoreingenommenheit wundern. Es ist aber auch so, dass Schneider ziemlich enttäuscht ist von der SPD. Er meint: „Als die Agenda 2010 kam, fühlten wir uns so richtig betrogen.“ Auch danach machte er keine guten Erfahrungen mit den Sozialdemokraten. „Es war ja so, dass jede Nachbesserung gleich als Generalkritik an dem Gesamtprogramm empfunden wurde“, erklärt er. „Das kommt von der eigenen Unaufgeräumtheit der Partei mit der Geschichte dieser Reform.“ Er verschränkt die Arme vor der Brust. Er sieht wieder aus wie ein Kneipenwirt. Ein Wirt, der gerade eine Zustandsbeschreibung der SPD abgegeben hat.

Am Dienstag wird Olaf Scholz, der Noch-Minister von der SPD, ein paar Mitarbeiter nach Karlsruhe zum Gericht schicken. Er hat sie mit einem Gegengutachten bewaffnet. Das Urteil soll Anfang nächsten Jahres kommen. „Wir sehen dem Tag mit freudiger Erwartung entgegen“, ruft Schneider. Er lacht auf. Er wirkt kampfeslustig mit dem Gipsarm und den Schienbeinschonern.