Abfluss verstopft

FLÜCHTLINGSPOLITIK Frankreich verweigert den tunesischen Flüchtlingen aus Italien die Einreise. Der italienisch-französische Streit eskaliert

Der Boykottaufruf sei „eine legitime Reaktion auf eine irrige Position“, meint Italiens Innenminister Maroni

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Am Montag rollten die Züge wieder vom italienischen Ventimiglia über die französische Grenze Richtung Menton. Und nichts erinnerte mehr an die Totalblockade vom Vortag, als die französischen Behörden die völlige Einstellung des grenzüberschreitenden Zugverkehrs erzwungen und zugleich zwei Straßen-Grenzübergänge mit einem Großaufgebot an Bereitschaftspolizei abgeriegelt hatten. Das Ziel der Franzosen: Hunderte Tunesier und mit ihnen solidarische italienische Demonstranten an der Einreise zu hindern. Das Resultat: Die Spannungen zwischen Frankreich und Italien, wie man mit den tunesischen Flüchtlingen umgeht, haben einen neuen Höhepunkt erreicht.

Ein „Eiserner Vorhang“ sei da plötzlich für mehrere Stunden mitten in Europa wieder hochgezogen worden, merkte die linksliberale Tageszeitung La Repubblica an – ein Eiserner Vorhang allerdings, der nach ersten Meldungen aus Brüssel völlig EU-konform gewesen sein soll. Die italienische Nachrichtenagentur Ansa jedenfalls berichtete am Montag, „aus Kreisen der EU-Kommission“ sei zu hören, dass ein Staat des Schengen-Raums durchaus seine Grenze schließen dürfe, wenn es dafür „Gründe der öffentlichen Ordnung“ gebe.

Ebensolche Gründe hatte Frankreich geltend gemacht – auch wenn die öffentliche Ordnung Frankreichs durch gerade einmal hundert Demonstranten aus den linksradikalen Autonomen Zentren Genuas und andrer Städte, die zusammen mit einigen hundert Tunesiern im „Zug der Würde“ nach Nizza fahren wollten, wohl kaum ins Wanken geraten wäre.

Doch Frankreich ging es wohl auch um anderes – darum, ein paar Autonome aus Italien als Vorwand dazu zu benutzen, um die stramm rechte Regierung in Rom zu treffen. Stundenlang saßen nicht bloß die Tunesier und die Demonstranten in Ventimiglia fest, sondern auch Tausende Wochenendausflügler, während auf den Anzeigetafeln für jeden Zug mit französischem Fahrtziel die Mitteilung „entfällt“ aufleuchtete.

Noch am Sonntagmorgen hatten italienische Zeitungen mit der Meldung aufgemacht, Frankreich lasse jetzt die Einreise der in Italien mit Aufenthaltsgenehmigungen und Visa ausgestatteten Tunesier zu; die ersten zwanzig von ihnen seien ohne Probleme eingereist. Doch dann kam mit der Grenzblockade die kalte Dusche für die Regierung Berlusconi. „Den Wasserhahn der Wanne zudrehen und zugleich unten den Stöpsel rausziehen“, so hatte der Minister und Chef der rechtspopulistisch-fremdenfeindlichen Lega Nord, Umberto Bossi, das in Rom verfolgte Konzept zusammengefasst. Nachdem Tunesien die Rücknahme aller seiner nach dem 5. April nach Italien gelangten Bürger zugesagt hatte, sollten die vorher in Lampedusa Angekommenen nun eine sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erhalten und dann die Badewanne Italien durch den Stöpsel Ventimiglia Richtung Paris oder Marseille verlassen.

Umso größer ist jetzt die Aufregung, weil Frankreich weiterhin auf dem Standpunkt beharrt, die italienische Position sei nicht Schengen-konform. Italiens Außenminister Franco Frattini schickte seinen Botschafter in Paris zum förmlichen Protest vor; und er behauptete, die Grenzsperrung sei „illegitim und eine offene Verletzung der allgemeinen europäischen Prinzipien“. Ähnlich äußerte sich Innenminister Roberto Maroni, der sich hinter den Boykottaufruf seiner Lega Nord gegen französische Waren stellte: Er sei „eine kräftige und legitime Reaktion auf eine ungerechte und irrige Position“.

Und auch unter Italiens Bürgern hinterlässt der Konflikt Spuren. Nach einer vom Corriere della Sera veröffentlichten Umfrage ist das Vertrauen in die EU von 60 Prozent im Januar auf jetzt nur noch 42 Prozent gefallen; und 72 Prozent meinen, die EU verhalte sich in der Flüchtlingsfrage falsch, weil sie Italien allein lasse. Frankreich jedoch zeigt sich unbeweglich. Innenminister Claude Guéant erklärte, seine Behörden hätten sich „bis aufs Komma genau“ an die Schengen-Vorschriften gehalten. Flüchtlinge dürften nur nach Frankreich einreisen, wenn sie gültige Ausweispapiere vorweisen könnten und genügend Geld bei sich hätten, um sich versorgen zu können.