Kohle ist alles

SOMA Der Profitgier im Bergbau stehen die Gewerkschaften in der Türkei machtlos gegenüber

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Es ist diese eine Szene, die eigentlich alles aussagt über die Sicherheitsstandards in der türkischen Unglücksmine in Soma. Drei Tage nach dem Unfall finden Rettungsmannschaften 14 tote Kumpel in einem Container auf dem Grund des Bergwerks in 2.000 Metern Tiefe. Darin liegen 14 Leichen. Der Container ist der sogenannte Sicherheitsraum für Bergleute, in den sie nach einem Unglück Zuflucht finden sollen, bis Rettungsmannschaften irgendwann zu ihnen vordringen.

Diese Schutzräume sollen mit Sauerstoff, Wasser und Nahrung für mindestens 2 Wochen ausgerüstet sein und 40 Bergleuten Schutz gewähren. In den Containern in Soma passten mit Mühe und Not 14 Bergleute. Es war der einzige für die knapp 800 Bergleute, die unter Tage waren. Nach weniger als 12 Stunden war der Sauerstoff verbraucht. Die Männer erstickten qualvoll.

Experten wussten Bescheid

Nur noch zynisch wirkt da das Schild über dem Eingang zum Unglücksstollen: „Önce Is Güvenligi“, Arbeitssicherheit zuerst. Genau diese Arbeitssicherheit wird in Soma, aber auch in den meisten anderen Bergwerken in der Türkei aus Profitgründen sträflich vernachlässig. Gerade einmal in 4 von 400 Minen, so wurde jetzt bekannt, existieren überhaupt Schutzräume, in die sich die Kumpels bei einer Katastrophe flüchten können. Über tausend Tote in den letzten zwanzig Jahren: Das ist die traurige Bilanz der türkischen Minenindustrie, die von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO als eine der drei gefährlichsten weltweit eingeschätzt wird.

Das alles wird nun in der türkischen Öffentlichkeit ausgebreitet, doch unter Experten ist die dramatische Situation längst bekannt. Erst 2010 hatte die türkische Ingenieur- und Architektenkammer eine 152 Seiten starke Studie zu der Situation in den Minen veröffentlicht und detailliert die potenziell tödlichen Sicherheitsmängel aufgelistet. Passiert ist daraufhin gar nichts.

Der Staat hat seit den 90er Jahren die meisten Minen entweder privatisiert oder aber an Privatunternehmer verpachtet, die dafür jedes Jahr ein bestimmtes Kontingent an Kohle liefern müssen – in Soma sind es 6 Millionen Tonnen pro Jahr. Im Jahr 2005 hat der Unternehmer Alp Gürkan die Mine in Soma vom Staat gepachtet. Der Mann ist mit der AKP von Recep Erdogan bestens vernetzt, die Pachtverträge werden direkt vom Büro des Ministerpräsidenten vergeben, womit sichergestellt ist, dass nur parteinahe Unternehmer zum Zuge kommen.

Erst kürzlich hatte sich Alp Gürkan, der mit seinen Gewinnen bereits zwei Wolkenkratzer in Istanbul hochgezogen hat, damit gebrüstet, dass er die Kosten pro Tonne geförderter Kohle von 120 Dollar auf 25 Dollar gesenkt hat. Gelingen kann das nur, wenn man bei Sicherheitstechnik spart und die Arbeitskosten drastisch senkt. In Soma und anderen Unternehmen im kapitalistischen Boomland Türkei wurde und wird das dadurch erreicht, dass man die angestammte Belegschaft durch rechtlose Leiharbeiter von Subunternehmern ersetzt, die für einen Bruchteil des Geldes arbeiten. Die bestbezahlten Kumpel in Soma erhalten gerade einmal 420 Euro pro Monat, die schlecht bezahlten rund die Hälfte.

Möglich sind solche Zustände aus drei Gründen. Zuerst einmal gibt es ein Heer von Arbeitssuchenden, das in den vergangenen Jahren auch noch durch Flüchtlinge und illegale Einwanderer aus Syrien, dem Iran, Irak und afrikanischen Ländern enorm vergrößert wurde und die Menschen dazu zwingt, fast jeden schmutzigen, gefährlichen und unterbezahlten Job im Bergbau, in den Werften, der Textilindustrie oder auf dem Bau anzunehmen.

Zweitens ist die Erdogan-Regierung für das schnelle Wirtschaftswachstum alles bereit zu akzeptieren, eben auch Millionen Arbeitsplätze, die Todesfallen gleichen. Der dritte Grund sind die extrem schwachen Gewerkschaften.

Das war nicht immer so. Vor gut 30 Jahren waren die Gewerkschaften in der Türkei noch ein echter Machtfaktor. In den 70er Jahren waren Millionen Beschäftigte im linken Gewerkschaftsdachverband „Devrimci Isci Sendikalari Konfederasyonu“ (DISK, Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften) organisiert. DISK konnte Hunderttausende Menschen auf die Straße bringen und führte in etlichen Branchen wirkungsvolle Streiks durch. Dann kam der Militärputsch vom 12. September 1980. Die Generale rechtfertigten den Staatsstreich mit allem Möglichen, ein wichtiges Ziel wurde jedoch kaum thematisiert: die Zerschlagung der Gewerkschaften.

Der Fall DHL

Tausende Gewerkschaftsfunktionäre verschwanden nach dem Putsch mehr als ein Jahrzehnt hinter Gitter. All ihre Organisationen wurden verboten, später erlaubte man die Gründung staatsnaher „gelber“ Gewerkschaften, die bis heute die Gewerkschaftsbewegung spalten und schwächen. DISK, die in den 90er Jahren wiederzugelassen wurde, hat sich bis heute von dem Schlag nicht erholt. Der Dachverband hat zwar auf dem Papier viele Branchen organisiert, doch die Mitgliederzahlen sind gering – und noch geringer ist die Zahl aktiver Gewerkschafter, die tatsächlich bereit sind, sich zu engagieren.

Das hat nicht zuletzt mit den repressiven Mitbestimmungsgesetzen zu tun, die nach dem Putsch verabschiedet wurden und zum großen Teil bis heute in Kraft sind. Um die neoliberale Öffnung der Wirtschaft, die die Regierung von Turgut Özal, einem Vorbild von Erdogan, ab 1983 in Szene setzte, überhaupt durchführen zu können, musste die organisierte Arbeiterschaft ausgeschaltet bleiben.

Noch heute muss in der Türkei jeder Arbeiter seinen Gewerkschaftsbeitritt von einem Notar beglaubigen lassen, wovon die Arbeitgeber sofort erfahren. Um die Gewerkschaft im Betrieb zu verhindern, werden oft diejenigen gefeuert, die sich gerade organisiert haben. Die Gewerkschaften stehen dieser Praxis oft ohnmächtig gegenüber. Es gibt nur wenige, dafür aber spektakuläre Gegenbeispiele.

Als beispielsweise der internationale Logistikkonzern DHL, eine Tochter der deutschen Post, in Istanbul vor zwei Jahren 32 Arbeitern kündigte, um zu verhindern, dass die Transportarbeitergewerkschaft Tümtis in dem Betrieb Fuß fassen konnte, antwortete diese mit einem Dauerprotest vor den Toren von DHL. Fast zwei Jahre demonstrierten die gefeuerten Arbeiter mit anderen Mitgliedern von Tümtis. Unterstützt wurden sie dabei von der deutschen Gewerkschaft Ver.di, die in Deutschland für die Post zuständig ist.

Die internationale Unterstützung war so wirkungsvoll, dass DHL vor zwei Wochen einknickte und einen Tarifvertrag mit Tümtis unterschrieb. Internationale Solidarität für türkische Gewerkschaften ist kein leerer Spruch, sondern kann zum entscheidenden Faktor werden.