Quengelware auf dem Kieker

HANDEL Die Regierungsfraktionen verlangen, in Supermärkten Kassenbereiche ohne Süßigkeiten zu schaffen

Mehr als jedes siebte Kind in Deutschland ist übergewichtig, Tendenz steigend

VON RICHARD ROTHER

BERLIN taz | Wer Kinder im Grundschulalter hat, kennt das: Kaum steht man in der Kaufhalle an der Kasse, geht die Quengelei los. Diese Bonbons, Gummibärchen oder Schokoladeneier müssten noch aufs Band, so die lautstarke Forderung. Dann muss man hart bleiben – oder mehr Geld ausgeben, die Gesundheit der Kinder gefährdend, die sowieso schon zu viele Süßigkeiten essen. Oder auf das Ergebnis einer aktuellen Bundestagsinitiative der Regierungsfraktionen von SPD und Union hoffen, die das Anbieten von Quengelware in Kassennähe einschränken will.

Konkret fordern die Regierungsfraktionen die Bundesregierung auf, gemeinsam mit der Lebensmittelwirtschaft und dem Lebensmittelhandel „darauf hinzuwirken, dass quengelfreie (süßigkeitenfreie) Kassen in Supermärkten angeboten werden“. Im Bereich der Schulen und Kindergärten sollen Ernährungsqualitätsstandards in den Ausschreibeverfahren und Verträgen mit den Trägern verankert werden. Zudem soll erreicht werden, „dass an Kindertagesstätten und Grundschulen keine Süßigkeiten, Knabberzeug, Fast-Food und Softdrinks beworben werden“.

Weiter stellen die Fraktionen fest: „Nie zuvor waren Lebensmittel in Deutschland so sicher, bezahlbar und vielfältig wie heute.“ Dennoch nähmen gesundheitliche Risiken und Krankheiten wie Übergewicht, Fettleibigkeit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu, deren Ursachen auch ungesundes Essverhalten und mangelnde Bewegung seien.

„Wir wollen allen Kindern einen gesunden Start ins Leben ermöglichen“, sagte SPD-Fraktionssprecher Rüdiger Petz. „Das hat etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun.“ Zwar habe die Bundestagsinitiative vor allem einen appellativen Charakter – „aber es ist ein erster Schritt“. Zudem müsse der Handel ein Interesse daran haben, auf seine Kunden zuzugehen.

Die Lebensmittelwirtschaft hält von dem – ohnehin nur weichen – Vorschlag für quengelfreie Kassen nicht viel. Diese Diskussion sei gefährlich, „weil sie von den ernsteren Problemen wie Bewegungsmangel und mangelndem Ernährungswissen in der Küche ablenkt“, sagte Stephan Becker-Sonnenschein, Geschäftsführer des Lobbyvereins der Branche. „Selbst wenn solche Kassen flächendeckend kämen, wären wir dem Ziel einer ausgewogenen Ernährung keinen Schritt näher.“

Auch die Verbraucherorganisation Foodwatch kritisiert das Vorhaben der Regierungsfraktionen. „Deutlicher kann eine Kapitulationserklärung der Großen Koalition vor der Lebensmittelindustrie nicht ausfallen“, sagte Martin Rücker von der Organisation. Es gebe nur einen Katalog von Unverbindlichkeiten. Es mangele nicht an individueller Willenskraft, sondern am politischen Willen, sich mit der Industrie anzulegen und beispielsweise Werbe- und Sponsoringverbote durchzusetzen. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, die die Werbelügen durchschauen können.“

Das Hauptproblem ist nach Ansicht Rückers, dass die Lebensmittelindustrie weltweit mit ungesundem Essen Gewinnmargen von 15 bis 18 Prozent erzielen könne, während es bei Obst und Gemüse weniger als 5 Prozent seien. Deshalb sei das Werbebudget für ungesundes Essen auch viel höher. Kinder in Deutschland würden nur etwa die Hälfte der empfohlenen Menge an Obst oder Gemüse zu sich nehmen – aber mehr als doppelt so viel an Süßwaren, Knabberartikeln und Brausen. 15 Prozent der Kinder in Deutschland seien übergewichtig, der Anteil übergewichtiger Kinder habe sich im Vergleich zu den 1980er Jahren verdoppelt.