Eine der schlimmsten Katastrophen

SEENOT Vor der Küste Italiens sind offenbar 400 Flüchtlinge ertrunken, nachdem ihr Boot gekentert ist. Es war eins von vielen, die gerade von Libyen losfahren. Rechtspopulisten lehnen Unterbringung weiterer Menschen ab

„Wir besetzen jedes Gebäude, das für Flüchtlinge bestimmt ist“

LEGA-NORD-CHEF MATTEO SALVINI

VON MICHAEL BRAUN

ROM taz | Nach Aussagen von Überlebenden hat sich vor der libyschen Küste erneut eine Tragödie ereignet. Die Zeugen, die von einem italienischen Schiff gerettet und in den Hafen von Reggio Calabria gebracht worden waren, sprechen von bis zu 400 Toten, die bereits am Sonntag dem Untergang ihres Boots zum Opfer gefallen sein sollen. Es wäre eine der schlimmsten Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer, seit im Oktober 2013 mehr als 360 Menschen vor der Insel Lampedusa umgekommen waren.

Nur 144 Personen wurden gerettet. Italienische Schiffe bargen neun Leichen. Und das Drama setzte sich an Bord des italienischen Marineschiffs „Orione“ fort: Eine junge, schwangere Frau starb völlig entkräftet, während zugleich eine andere schwangere ihr Kind gebar.

Den Mitarbeitern der Hilfsorganisation Save the Children berichteten die Geretteten auch von den Zuständen in den libyschen Lagern: Sie seien vier Monate lang in einer alten Sardinenfabrik gefangen gehalten und misshandelt worden.

Das Flüchtlingsboot kenterte offenbar, als seine Insassen einen Frachter erblickt hatten und die Menschen sich auf eine Seite des Decks drängten, wodurch der völlig überladene Kahn – so die Aussagen – das Gleichgewicht verloren hatte. Den Geretteten zufolge konnten die meisten Flüchtlinge, unter ihnen viele Kinder und Jugendliche, nicht schwimmen.

Das Boot ist eines von vielen, die in den letzten Tagen von der libyschen Küste aus in See gestochen sind. Allein seit Freitag wurden etwa 8.500 Menschen von Schiffen der italienischen Küstenwache und Marine sowie von Frontex-Einheiten aufgenommen und in italienische Häfen gebracht.

Die Erwartung, dass die Zahl der Ankommenden 2015 noch einmal über dem Rekordjahr 2014 liegen könnte, wird durch den aktuellen Trend bestätigt: Seit Jahresbeginn wurden 21.000 Bootsflüchtlinge gezählt. Schon vor dem schweren Unglück vom Sonntag hatte die Zahl der Todesopfer auf dem Meer bei etwa 500 gelegen.

Mittlerweile greifen libysche Schlepper auch zu den Waffen, um die von ihnen genutzten Kähne vor der Beschlagnahmung zu schützen. Dies berichtete die Besatzung des italienischen Schleppers „Asso 21“, der ebenfalls am Sonntag 250 Flüchtlinge an Bord genommen hatte und dann unter Hilfestellung eines am Frontex-Einsatz beteiligten isländischen Schiffs den Kahn an den Haken nehmen sollte. Dieser Plan wurde von Männern auf einem Boot der libyschen Küstenwache – die aber offenbar Schleuser waren – durchkreuzt: Sie feuerten in Richtung des italienischen Schiffs und vereitelten so die Abschleppaktion.

Der Vorfall ist der zweite dieser Art seit Jahresbeginn; der italienischen Küstenwache gilt er als Indiz, dass in Libyen die Boote knapp werden und deshalb auch schrottreife Kähne, die bisher bloß zur einmaligen Überfahrt bestimmt waren, zum kostbaren Gut werden.

Dramatische Berichte gab es auch von anderen Flüchtlingsschiffen. So sagten die Insassen eines Schlauchboots nach ihrer Rettung aus, ein Passagier sei während der Überfahrt gestorben und daraufhin ins Wasser geworfen worden, wo er von Haien zerfleischt worden sei.

Angesichts der vielen Neuankömmlinge alarmierte das italienische Innenministerium die Präfekturen im ganzen Land; sie sollen schnellstens neue Notunterkünfte ausfindig machen. Doch die rechtspopulistisch-fremdenfeindliche Lega Nord ist offenbar entschlossen, die Flüchtlingsfrage zum zentralen Thema im Wahlkampf für die Regionalwahlen Ende Mai zu machen.

Lega-Nord-Chef Matteo Salvini erklärte: „Wir sind bereit, jedwedes Hotel, jede Schule oder Kaserne zu besetzen, die für die angeblichen Flüchtlinge bestimmt sind.“ Und der aus den Reihen der Lega stammende Präsident der Region Venetien, Luca Zaia, droht, die Aufnahme weiterer Flüchtlinge zu verweigern: „Ich lese, dass Venetien weitere 700 Plätze bereitstellen soll“, ließ er verlauten, „ich antworte, dass die Zahl der verfügbaren Plätze null ist.“