Ständige Angst vor Angriff und Tod

Die jüngste israelische Besetzung der palästinensischen Autonomiegebiete hat in einer Woche bereits 40 Todesopfer gefordert. Für viele ist das Leben hier unerträglich geworden. An einen definitiven Abzug der Truppen glaubt kaum noch jemand

aus Ramallah SUSANNE KNAUL

Ein kleiner Lastwagen mit acht Schulkindern rast auf den Parkplatz eines mehrstöckigen Wohnhauses und stoppt mit quietschenden Reifen. Die Kinder schnappen sich ihre Tornister von der hinteren Ladefläche und laufen zum Hauseingang. Grund für ihre Eile ist ein etwa 50 Meter entfernt stehender israelischer Panzer. Er sieht aus wie ein überdimensionaler, gefährlicher Käfer, der jede Minute seinen Angriff startet. Die Soldaten in ihm lassen sich nur erahnen. Vermutlich zielen sie mit ihrem Granatenrohr auf jeden, der sich ihnen nähert. Der Panzer macht Angst. Und das, obwohl es in dieser Gegend schon seit Tagen keine nennenswerten Gefechte mehr gegeben hat.

Die Soldaten haben sich an der Stadtausfahrt von Ramallah platziert. Hier fängt die Besatzung an, seit die Regierung in Jerusalem als Maßnahme nach dem Mord an einem Minister den Einmarsch der Truppen beschloss. Die Straße, die nach Norden in Richtung Nablus führt, gehört zu den befahrensten in der Umgebung. Seit einer Woche kommt nur noch selten ein Auto vorbei. Das große Hotel an der Ecke hat erst vor ein paar Jahren eröffnet. Jetzt steht es vollkommen leer.

In den neuen Bürohäusern und den meisten Geschäften an der Straße wird derzeit nicht gearbeitet, nur in einer Autovermietung, denn die Tür des Gebäudes ist leicht angelehnt. Ebenso bei dem benachbarten Lebensmittelgeschäft. „Willkommen“, rufen die beiden vielleicht zehn Jahre alten Jungen, die kichernd hinter der Kasse sitzen. Viel Kundschaft haben sie in diesen Tagen nicht.

„Wer kann, geht weg“, meint Mohammad Saba, ein Telefontechniker, der auf der gegenüber liegenden Straßenseite zusammen mit zwei Kollegen einige Verbindungskabel repariert. Schon seit vergangenen Freitag sind hundert Leitungen tot, weil Kugeln israelischer Soldaten den Schaltkasten getroffen hatten. „Wir sind nicht früher gekommen, weil die Techniker sich nicht in die Gegend trauten“, erklärt Saba. Warum sie keine kugelsicheren Westen tragen? „Woher sollten wir die nehmen? Selbst unsere Sicherheitsbeamten haben keine Westen.“

Aus einem Wohnhaus kommen drei verschleierte Frauen. Sie geben zu, Angst zu haben. Besonders nachts sei es schlimm, wenn Soldaten durch die Straßen kämen und geschossen werde. „Das ist kein Leben hier“, sagt eine und fragt, „wie lange israelische Mütter das aushalten würden“. Dass die Soldaten bald abziehen werden, glaubt sie nicht.

Während des Vormittags sind wenige Kilometer entfernt in dem Dorf Beith Rima sechs Palästinenser erschossen worden. „Es wird jeden Tag schlimmer“, sagt Saba, als er sein Werkzeug zusammenpackt. Unterdessen werden die ersten Gerüchte laut über das Massaker im benachbarten Dorf. Von sogar „über zehn Toten“ berichtet der Hörfunk. Verletzte müssten verbluten. Tatsächlich bestätigt es sich am Tag darauf: Als nach sechs Stunden Wartezeit die Ambulanzen durchgelassen wurden, kommt mindestens für einen Palästinenser alle Hilfe zu spät.

In Jerusalem wird das seit Monaten schlimmste militärische Wüten als Erfolg propagiert. Elf verdächtigeTerroristen, darunter vermutlich Mitverantwortliche für den Mord an Tourismusminister Rechawam Seewi, seien verhaftet worden. Die Militärs hinterlassen ein Schlachtfeld. Fünf Häuser der Familien verdächtiger Tathelfer wurden mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht. Am gleichen Tag sterben in der vor einer Woche besetzten Zone bei Tulkarem und Bethlehem fünf Menschen.

„Nur noch wenige Tage“, so berichtete die liberale Tageszeitung Haaretz werde die Besatzung andauern. Nicht nur der massive Druck aus den USA motiviere Premierminister Ariel Scharon zum baldigen Abzug. Auch strategisch sei es immer unsinniger, die Truppen in den palästinensischen Autonomiegebieten zu belassen. Mit jedem Tag werde es für die Kämpfer der Tansim leichter, sich so zu postieren, dass es für die israelischen Soldaten gefährlich werden könnte, kommentierte der Armee-Korrespondent des 1. Fernsehkanals Ron Ben-Ischai.

Die Bilanz einer Woche Besatzung sind 40 Tote. Von 93 verletzten Schülern berichtete Erziehungsminister Naim Abu-Humos bei einer Pressekonferenz in Ramallah. Vor allem in den ersten Tagen der Besatzung wurden wiederholt Schulen beschossen. Einen erschütternden Zeugenbericht veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Bezelem am Donnerstag: „Riham fiel zu Boden. Aus Mund und Nase strömten Blut. Ich fühlte nach ihrem Puls“, berichtet Raslam Mahagna aus Djenin über den Tod ihrer 14-jährigen Schwester, die im Klassenzimmer durch Schüsse getötet wurde. „Sie öffnete ihre Augen, lächelte und schloss ihre Augen wieder. Ich schüttelte sie, aber es half nichts mehr.“