Koalitions-Regierung in Belgien: Lebensabschnittsgemeinschaft

Neun Monate nach der Wahl hat Belgien nun endlich eine Regierung. Beobachter bleiben skeptisch - zu tief ist der Graben zwischen den Bevölkerungsgruppen.

Kommt die Regierung Leterme gut über den Sommer? Beobachter bezweifeln es. Bild: dpa

BRÜSSEL taz Wer sich eine Vorstellung machen will, wie es in der flämischen Provinz zugeht, sollte einen Blick auf diese kleine Meldung werfen, die vor einiger Zeit erschien: Der Gemeinderat von Liedekerke habe beschlossen, hieß es da, Kindern den Zutritt zu den kommunalen Spielplätzen zu verweigern, wenn sie kein Niederländisch verstehen. Liedekerke liegt im holländisch sprechenden Flandern, nur wenige Kilometer westlich von Brüssel. Hier wohnen viele französischsprachige wallonische Familien, denen die Flamen am liebsten den Erwerb von Grundbesitz in ihrer Region verbieten würden; sie fürchten sich vor "Überfremdung". Inzwischen hat der flämische Migrationsminister die Spielplatzverordnung für gesetzeswidrig erklärt und aufgehoben.

Doch der Gemeinderatsbeschluss sagt viel über den inneren Zusammenhalt des Landes Belgien, das nach neun Monaten Gerangel endlich wieder eine Regierung hat. Am 20. März hat der flämische Christdemokrat Ives Leterme sein Amt als Premierminister angetreten, 14 Minister hat seine neue Regierung. Sie soll die zerstrittenen Bevölkerungsgruppen wieder einen, die sechs Millionen Flamen im nördlichen Teil des Landes, vier Millionen Wallonen im Süden und die kleine deutschsprachige Minderheit im Osten Belgiens.

Doch die Gräben sind vor allem zwischen Flamen und Wallonen tief: Die einst blühende wallonische Stahlindustrie hat hoffnungsloser Tristesse Platz gemacht, während sich die Flamen von armen Bauern zu erfolgreichen Kaufleuten und Hightech-Ingenieuren mauserten. Ihr Durchschnittsverdienst liegt mit 1.400 Euro netto rund 200 Euro höher als der ihrer wallonischen Landsleute, die Arbeitslosigkeit ist viel niedriger als im französischsprachigen Teil. Die Flamen erwarten, dass ihrer Sprache und Kultur endlich der ihnen gebührende Platz eingeräumt wird.

Eine Regierung aus fünf Koalitionspartnern beider Regionen kam nur zustande, weil die von den Flamen geforderte Verfassungsreform auf Juli verschoben wurde. Die Flamen wollen Finanztransfers in die maroden Sozialsysteme der Wallonie auf ein Minimum reduzieren und noch mehr regionale Eigenständigkeit durchsetzen. Die Wallonen befürchten den finanziellen Bankrott und eine endgültige Spaltung Belgiens.

Ausgerechnet durch den Tod des flämischen Nationaldichters Hugo Claus flammte auch der Streit um das belgische Euthanasiegesetz zwischen den Koalitionspartnern wieder auf. Claus hatte Sterbehilfe in Anspruch genommen, da er seit zehn Jahren an Alzheimer leidet. Flämische Liberale fordern nun, auch todkranken Kindern und Demenzpatienten Sterbehilfe zu ermöglichen. Katholische Krankenhäuser sollen verpflichtet werden, Sterbewilligen zu helfen. Die wallonischen Christdemokraten sind strikt gegen diese Änderungen.

Die Regierung seines Vorgängers Guy Verhofstadt sei wenigstens zu Beginn eine leidenschaftliche Affäre gewesen, meint die Tageszeitung De Standaard. Die neue Regierung hingegen sei "nicht einmal eine Vernunftehe, sondern höchstens eine rational begründete Lebensabschnittsgemeinschaft". Schon im Juli, wenn die Verfassungsreform erneut auf der Tagesordnung steht, könnte dieser Lebensabschnitt zu Ende sein. Die meisten belgischen Zeitungen räumen der neuen Regierung Leterme kaum Chancen ein, die ihr verbleibenden drei Jahre bis zu regulären Neuwahlen zu überstehen.

DANIELA WEINGÄRTNER

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