Belgiens Krise geht in die nächste Runde

Nach nur vier Monaten im Amt tritt Premierminister Yves Leterme zurück. Der Grund: Flamen und Frankophone können sich nicht auf die künftige Staatsform einigen. Jetzt ist der König am Zug. Doch mit baldigen Neuwahlen rechnet kaum jemand

AUS BRÜSSEL CLARA ROSENBACH

Der belgische Premierminister Yves Leterme hat seinen Rücktritt eingereicht. Die Regierung im Reich von König Albert II. steht wieder einmal vor dem Aus. Seit den Parlamentswahlen im Juni vergangenen Jahres hat es der flämische Christdemokrat nicht geschafft, einen Kompromiss zwischen Flamen und Frankophonen zu finden. Nach mehreren Anläufen und immer neuen Verhandlungen und Rückschlägen hat er nun das Handtuch geworfen.

„Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Flamen und Frankophonen sind zu groß. Das Verhandlungsmodell auf föderaler Ebene hat seine Grenzen erreicht“, teilte Leterme in der Nacht zu Dienstag in einer kurzen Mitteilung mit. Vorangegangen war ein Gespräch mit König Albert II., das bis in die frühen Morgenstunden dauerte.

Jetzt liegt es wieder einmal beim König, darüber zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Bis Ende der Woche wurde seine Entscheidung erwartet. Albert II. wird wohl zunächst Gespräche mit allen Parteien führen, bevor er eine Entscheidung trifft. Nach der belgischen Verfassung ist es die Aufgabe des Königs, über mögliche Neuwahlen oder eine erneute Ernennung Letermes oder eines anderen Premierministers zu entscheiden.

Mit vorgezogenen Neuwahlen rechnet in Brüssel aber kaum jemand. Dafür sind die Chancen zu gewinnen für alle Parteien zu unsicher. „Die Gefahr, dass die Stimmung in Flandern nach Neuwahlen noch radikaler wird, ist zu groß“, meint Politikwissenschaftler Pascal Delwit von der Freien Universität Brüssel. Er befürchtet, dass radikale Parteien wie Vlaams Belang von vorgezogenen Neuwahlen profitieren würden.

Für wahrscheinlich hält er dagegen, dass eine Übergangsregierung bis zu den Regionalwahlen im Juni 2009 gebildet wird. Dann könnten die Belgier gleichzeitig auch eine neue Föderalregierung wählen – in der Hoffnung, dass die länger hält als die unter Yves Leterme.

Der hatte es nicht geschafft, alle Parteien von einem Kompromiss zwischen Flamen und Frankophonen zu überzeugen. Bis zuletzt konnten sie sich nicht auf eine Staatsreform einigen: Die Flamen verlangen weiterhin eine größere Autonomie der Regionen – zum Beispiel in der Arbeitsmarktpolitik und für das Gesundheitssystem. Die Frankophonen lehnen das ab.

„Letztendlich ist Leterme an den Forderungen aus dem eigenen Lager gescheitert. Er wollte zu viel auf einmal: eine Reform der Institutionen, eine neue Wirtschaftspolitik und die absolute Macht in Flandern – das war zu viel“, meint Delwit.

Die Reaktionen der übrigen Regierungsparteien sind gemischt. Der Vorsitzende der frankophonen Liberalen, Didier Reynders, der gleichzeitig Vizepremierminister ist, bedauerte die Entscheidung Letermes: „Wir waren schon so weit gekommen. Jetzt müssen wir wieder ganz von vorne anfangen. Das wird keine einfache Zeit für Belgien“, sagte Reynders am Dienstag in Brüssel. Auch die frankophonen Sozialisten zeigten sich erstaunt vom Rücktrittsgesuch des Premierministers. Die flämischen Christdemokraten begrüßten dagegen den Schritt. Leterme bewahre so seine Glaubwürdigkeit.

Für die Belgier bedeutet die erneute Krise, dass alle Gesetzesvorhaben der Regierung bis auf weiteres auf Eis gelegt sind. Dazu gehören auch die Pläne, die Kaufkraft durch Steuererleichterungen und Zuschüsse für etwa Benzin zu stärken. Diese Projekte werden nun wohl frühestens nach der Sommerpause auf den Tisch kommen.

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