Neue Spekulationen über Flugzeugabsturz

Schub-Umkehr vielleicht Ursache des Flugzeugunglücks in Madrid. Überwachungskamera bestätigt Triebwerkbrand beim Start nicht. Spanische Piloten fordern mehr Kontrollen und mehr Mittel der europäischen Luftfahrtbehörde

MADRID taz ■ Eines der Triebwerke der in Madrid verunglückten Spanair-Maschine war auf Schub-Umkehr gestellt, als die Behörden es an der Unglücksstelle auffanden. Darüber haben gestern mehrere spanische Zeitungen übereinstimmend berichtet. Ob die eigentlich nur für das Bremsen nach einer Landung vorgesehene aktivierte Schub-Umkehr aber die tatsächliche Unglücksursache ist, ist damit noch nicht sicher.

Die Sicherheitsexperten stellen sich zunächst neue Fragen. War die Schub-Umkehr während des Starts aktiv? Können sich die notwendigen Klappen beim Aufprall selbst ausgefahren haben? Oder aktivierte der Pilot die Schub-Umkehr in einem verzweifelten Versuch, den Start abzubrechen? Warum aktivierte sich die Schub-Umkehr dann nur an einem Motor?

So regiert weiter der Konjunktiv. Mehreren überlebenden Passagieren und einer Flugbegleiterin nach fehlte dem Flugzeug beim Start Schub. Der Pilot könnte nachlassende Triebwerke festgestellt und versucht haben, den Start abzubrechen, in dem er die Schub-Umkehr aktiviert habe, obwohl das Flugzeug dafür eigentlich bereits zu schnell war, schreibt die Tageszeitung El País. Der aktivierte Umkehrschub am rechten Triebwerk würde erklären, warum das Flugzeug nach dem späten Abheben von der Startbahn nach rechts kippte.

Immer noch gibt es um das Madrider Unglück viel mehr Spekulationen als Informationen. Manches längst als gesichert geltende Detail wird revidiert. So die Legende vom brennenden Triebwerk, das Augenzeugen beim Start gesehen haben wollen. Aufnahmen einer Überwachungskamera des Madrider Flughafens haben ergeben, dass kein Triebwerk brannte und das Flugzeug erst nach mehrmaligem Aufschlagen auf dem Boden Feuer fing.

Die Berichterstattung über das Unglück ist zum Spektakel geworden. Das Madrider Hotel, in dem zahlreiche Angehörige auf die Identifizierung der 154 Leichen warten, wird von Fernsehteams regelrecht belagert. Kein Sender kommt ohne Ü-Wagen auf dem großen Madrider Friedhof Almudena aus. Manche Familien sind nicht nur wegen toter Angehöriger verzweifelt. Zudem wird längst auch nach Schuldigen gesucht.

Die spanische Luftfahrtbehörde hat die Zahl der Kontrollen der Flugzeuge in den letzten Jahren von 3.511 im Jahr 2003 auf 9710 im vergangenen Jahr erhöht. Spanair wurde in diesem Jahr 100-mal kontrolliert. Zu wenig, findet die spanische Tageszeitung El Mundo und zitiert die Pilotengewerkschaft Sepla: „Es sind wenige und schlechte Kontrollen.“ Ein Sprecher der Gewerkschaft erklärt: „Das haben wir nicht gesagt. In den letzten Jahren wird mehr und besser kontrolliert.“

Die Piloten wünschten sich jedoch mehr Kontrollen und eine Aufstockung der Mittel der europäischen Luftfahrtbehörde. Keinesfalls habe man das Unglück mit mangelhaften Kontrollen begründet, stellen die Piloten richtig.

Den vorläufigen Höhepunkt des Medienspektakels bildete am Montag der Bericht eines argentinischen Nachrichtensenders. „Todo Noticias“ veröffentlichte den vermeintlich letzten Dialog der beiden Pilo- ten an Bord. Das spanische Infrastrukturministerium erklärte, dass es sich dabei um eine Fälschung handele. Die Flugschreiber sind immer noch unter Verschluss.

HANS-GÜNTER KELLNER