nebensachen aus moskau
: Streit um das tätowierte Schneewittchen aus dem Eis

Eine Prinzessin stiftet in Russland zurzeit gehörigen Unfrieden. Die Adlige stammt aus dem Altaigebirge und trägt den Titel „Prinzessin von Ukok“. Hinter Ukok verbirgt sich eine Hochebene im Süden Sibiriens an der Grenze zu China und der Mongolei. Archäologen entdeckten in den 90er-Jahren die Prinzessin in einem Kurgan, einem runden Grabhügel, der etwas abseits lag von den anderen Gräbern. Der ewige Frost auf 2.000 Meter Höhe hatte das Lärchenholz der Grabstätte, organische Grabbeilagen, Pferdegebeine und die Mumie einer jungen Frau tadellos erhalten.

Für Archäologen und Ethnologen war dies ein sensationeller Fund. Den Adelstitel verliehen der mit raffinierten Tiersymbolen tätowierten Mumie indes Journalisten – nicht zuletzt wohl wegen der üppigen Aussteuer fürs Jenseits. Die Wissenschaft vermutet eher eine Priesterin oder dionysische Zeremonienmeisterin hinter der Mumie. Ein riesiger Hanfbeutel als Beigabe könnte darauf hindeuten. Der griechische Historiker Herodot hatte bei den Skythen am Schwarzen Meer ähnliche Säcke in Gräbern entdeckt. Auch die Prinzessin soll dem Volk der Skythen entstammen, dessen Frauen eine besondere Wehrhaftigkeit nachgesagt wird.

Russische Historiker und Literaten, seit Jahrhunderten in Europa und Asien auf der Suche nach der eigenen Identität, berufen sich gern mal auf die Amazonen als Vorfahren. Die turksprachigen Altai-Nomaden halten die 2500 Jahre alte Prinzessin unterdessen für die Urmutter der Turkstämme Otschi Bala. Seit Wissenschaftler die tätowierte Schöne aus dem Eis befreiten und in die 800 Kilometer entfernte Universität nach Nowosibirsk entführten, häuften sich Katastrophen in der Region. Die Erde bebte, Berge teilten sich, und immer wieder brachen Unwetter herein.

Die Schamanen des Altai fordern die Mumie zurück: Die heimische Erde würde darum bitten, die Urmutter so zu beerdigen, wie sie gelegen habe. Lokalpolitiker unterstützen das Anliegen und verboten Archäologen das Graben und Forschen. Ganz nebenbei entdeckten die Altaier die eigene Geschichte wieder und geben sich selbstbewusster. Vor 250 Jahren sollen sie laut Moskauer Geschichtsschreibung freiwillig dem Zarenreich beigetreten sein.

Nach Auffassung seiner Bewohner ist das Gebirge im Herzen Asiens der Nabel der Welt. Hier sei die Menschheit vom Himmel gestiegen. Ob Hunnen, Saken, Arier oder Skythen – sie alle seien Söhne des Altai. Welchen Unterschied mache es, fragen sie, ob man Russe oder Inder sei? Die Trennung in Skythen und Altaier halten sie für künstlich – eine Erfindung des Kolonialherrn.

Schamanen ziehen über die Dörfer und warnen das ferne Moskau: „Gebt ihr uns die Mumie nicht zurück, schütteln wir euch mal richtig so durch.“ Als Schlichter schaltete sich jetzt Gazprom ein und versprach, die Geister zu besänftigen und der Prinzessin in der Heimat eine Bleibe zu errichten. Zürnende Naturgewalten kämen dem Gasgiganten ungelegen. Denn durch das Herz des von der Unesco als Weltkultur- und Naturerbe geschützten Ukok-Plateaus plant der Konzern eine Pipeline nach China zu verlegen.

KLAUS-HELGE DONATH