Der Werfer von Estelí

NICARAGUA Pablo Aráuz ist der Mensch hinter dem Poster. Die Revolution hat sein Leben geprägt

1 1979: Im Juli greifen Rebellen die Kaserne in der nicaraguanischen Stadt Estelí an. Dort haben sich Soldaten der Nationalgarde des Diktators Anastasio Somosa verschanzt. Der 21 Jahre alte Pablo Aráuz ist unter ihnen. Er schleudert einen Brandsatz. Die US-Fotografin Susan Meiselas drückt auf den Auslöser ihrer Kamera, das Bild wird berühmt.

2 1980er: Aufgebaut und finanziert von den USA kämpfen die Contras gegen die sandinistische Regierungsarmee, in der Pablo Aráuz Soldat wird. Sein Alltag ist der Krieg. 1988, als es zum Friedensschluss kommt, hat er es zum Oberleutnant gebracht.

3 Heute: Aráuz ist Lastwagenfahrer und Mechaniker, ein friedliebender Mann, der Streit aus dem Wege geht. In der Hauptstadt Managua regiert Sandinistenführer Daniel Ortega. Aráuz ist dennoch unzufrieden. Gemeinwohl sei kein Thema mehr, sagt er.

VON RALF LEONHARD

Das Foto wäre doch gestellt, haben neidische Zeitgenossen immer mal wieder behauptet. Pablo de Jesús Aráuz Mairena schüttelt entrüstet den Kopf: „Weißt du, wann ich überhaupt erst erfahren habe, dass es dieses Foto gibt? Als ein Nachbar mir eine Streichholzschachtel gezeigt hat, auf der es abgedruckt war.“

Es waren die ersten Monate der sandinistischen Revolution im mittelamerikanischen Nicaragua. Diktator Anastasio Somoza war in die USA geflüchtet. In Managua regierte eine Revolutionsjunta. Das Foto war binnen kürzester Zeit zur Ikone geworden, zum Symbol des Aufstands einer verzweifelten Bevölkerung gegen die Unterdrückung einer Diktatorendynastie. Ein unrasierter junger Mann mit schwarzer Baskenmütze ist im Begriff, eine zum Molotowcocktail aufgerüstete Flasche Pepsi-Cola gegen einen für den Betrachter unsichtbaren Gegner zu schleudern. In der Linken hält er ein altes belgisches FAL-Sturmgewehr, aus dem dunkelgrünen Hemd hängt ein weißer Rosenkranz mit Kruzifix heraus. Im Hintergrund sieht man Teile eines Panzers, den die Rebellen gerade gekapert haben. Die Szene spielt vor dem Sitz der Nationalgarde in Estelí, der größten Stadt im Norden Nicaraguas, 150 Kilometer nördlich der Hauptstadt Managua.

Sie ist wie eingefroren, diese Szene, und sie ist um die Welt gegangen. Die US-Fotografin Susan Meiselas hat den Volksaufstand und die ersten Jahre der Revolution mit der Kamera begleitet. Pablo Aráuz wusste, dass die Fotografin den ganzen Tag mit seiner Schwadron unterwegs war. Doch in der Hitze des Gefechts nahm er die zwischen den Kämpfern herumwieselnde und immer wieder Deckung suchende junge Frau gar nicht wahr.

Araúz erinnert sich gerne an jene Zeit. Die Kaserne von Estelí fiel schließlich in die Hände der Rebellen, obwohl die Nationalgarde sogar Fliegerbomben auf das Wohngebiet abwarf. Wenige Tage nach dem Fall von Estelí zogen die Guerilleros der Sandinistischen Befreiungsfront triumphal in Managua ein. Am 19. Juli jährt sich dieser Tag zum 30. Mal.

Jetzt sitzt der 51 Jahre alte Mann ohne Hemd in seinem Wohnzimmer in Somoto, 220 Kilometer nördlich von Managua. Es ist dampfend heiß. Feine Wassertröpfchen dringen durch das Dach, das dem Trommeln eines tropischen Regengusses ausgesetzt ist. Das geräumige Wohnzimmer ist kaum möbliert. Billige Plastikstühle sind in der Ecke gestapelt.

An den Wänden hängen angegilbte Familienfotos von Mädchen im Kommunionskleid oder im Talar bei der Diplomübergabe. Acht Kinder hat er in die Welt gesetzt, das jüngste ist fünf, das älteste 25. Eine Urkunde zum 25. Jahrestag der Revolution – unterzeichnet von Parteichef Daniel Ortega höchstselbst – bescheinigt Pablo Aráuz bleibende Verdienste um die Revolution.

Er bekam die Rebellion in die Wiege gelegt: „Meine Tante Blanca Aráuz war mit dem Befreiungshelden Augusto César Sandino verheiratet, mein Vater Pedro war Sekretär bei Sandino.“ Erlebt hat Pablo Aráuz seine Tante nicht mehr. Sie starb mit 24 Jahren bei der Geburt ihres Kindes. Sandino war der mythenumwobene General, der es mit einer Bauernguerilla schaffte, die Besatzungsarmee der USA zu vertreiben, die Nicaragua bis 1932 mehr als 20 Jahre lang praktisch zum Protektorat Washingtons gemacht hatte. Sandino wurde nach dem Friedensschluss ermordet, auf Befehl von General Anastasio Somoza García.

Ein Freund von Guevara

Somoza putschte sich wenig später an die Macht, die Anhänger und Angehörigen Sandinos flohen ins Exil. Auch Pablos Vater verbrachte mehrere Jahre im Ausland, zuletzt in Kuba, wo er mit Fidel Castro und Che Guevara befreundet war: „Ich habe ihn erst kennengelernt, als ich zwölf Jahre alt war.“

Damals war der kleine Pablo, der mit seiner Mutter und den Geschwistern im Grenzort El Espino aufwuchs, bereits ein erfahrener Bergführer. „Such den kleinen Aráuz in El Espino – der bringt dich über die Grenze“ – schon als Schüler musste Pablo immer wieder politisch Verfolgte über Bergpfade nach Honduras schmuggeln. Als sein älterer Bruder Augusto 1974 von Somozas Nationalgarde ermordet wurde, war Pablo überzeugt, dass er dessen Platz in der Guerilla der Sandinistischen Befreiungsfront einnehmen musste, der 1961 gegründeten FSLN. Gegen die Armut und die Repression der Somoza-Diktatur, da war er sicher, half nur der bewaffnete Kampf.

In der Schule schloss sich der begeisterte Baseballspieler der Revolutionären Studentenbewegung an, einer Vorfeldorganisation der FSLN. Schon damals trug er das Pseudonym „Bareta“ – nach einem TV-Kommissar, der ihn besonders beeindruckt hatte. Ab 1977 wurde aus sporadischen kleinen Militäraktionen ein Kleinkrieg, der in einen Volksaufstand mündete. Nach Überfällen einfach in die Schule zurückzukehren war bald nicht mehr möglich. Zu oft war er schon festgenommen worden. Pablo musste sich entscheiden: Schule und Zivilleben oder Kampf und Untergrund. Der Neunzehnjährige entschied sich für den Untergrund und widmete sich nur mehr dem Befreiungskampf, an dessen erfolgreichem Ausgang für die Aktivisten kein Zweifel mehr bestand. Sein Vater war damals schon tot, die Mutter wurde nicht gefragt, sie erhielt aber immer wieder Nachricht aus den Städten Estelí oder Jinotega, wo seine Einheit gerade unterwegs war.

Die Silhouette von Pablo Aráuz mit dem Pepsi-Flaschen-Brandsatz wurde in Nicaragua fast so berühmt wie das Porträt von Che Guevara. Als Plakat wurde sie ungezählte Male vervielfältigt, mittels Schablone an Häuserwände gesprayt. Pablo Aráuz selbst blieb dem bewaffneten Kampf treu. Erst wurde er dem militärischen Geheimdienst und kurz dem Spitzeldienst des Innenministeriums zugeteilt: „Da musste ich die Augen offen halten und Konterrevolutionäre in der Bevölkerung identifizieren.“

Auf die Dauer war der Job nichts für ihn. Vielleicht, weil er die Spitzelei nicht mochte, vielleicht auch, weil er sein Talent als militärischer Taktiker nicht gefordert sah. Er ging zur Armee, die als Sandinistisches Volksheer, hervorgegangen aus der Guerilla, gleichzeitig militärisches und politisches Instrument war. Erst als er in einen Kurs kubanischer Trainer für Militärtaktik geschickt wurde, erhielt er eine formale militärische Ausbildung. „Ich war besser als mein Vorgesetzter“, erinnert er sich stolz. Der Kubaner habe gemeint, ihm könne er nichts mehr beibringen. Trotzdem mangelte es Pablo Aráuz an Ehrgeiz. In acht Jahren brachte er es nur bis zum Oberleutnant. Es waren acht Jahre des Krieges.

Denn schon bald nach dem Sieg der Revolution hatten sich in Honduras versprengte Einheiten der ehemaligen Nationalgarde mit Unterstützung der CIA und der damaligen argentinischen Militärdiktatur zu den „Contras“ geformt, einer Terrorarmee, die mit finanzieller, militärischer und logistischer Unterstützung der US-Regierung unter Präsident Ronald Reagan das linke Nicaragua attackierte.

Pablo Aráuz befehligte Einheiten im Bataillon 5923 und im Bataillon 3124, war immer dort, wo die Contras waren. Drangen sie anfangs nur zu punktuellen Überfällen von Honduras aus nach Nicaragua ein, konnten sie später im Landesinnern Fuß fassen und unter den Bauern Sympathisanten finden.

Kampf gegen die Contras

Jahrelang waren die Berge, die Uniform und der Krieg der Alltag von Pablo Aráuz. Eines Tages wurde er mit 120 Kameraden in einen Vorbereitungskurs geschickt. Er sollte in der Sowjetunion zum Militärpiloten ausgebildet werden. „Ich hatte schon das Visum und das Ticket in der Hand. Ich saß praktisch schon im Flugzeug. Dann habe ich mir gesagt, das sollen andere machen. Ich bleibe.“

Schon Jahre zuvor hatte er ein Stipendium für ein Bergbaustudium in Peru ausgeschlagen: „Was, wenn die USA jetzt bei uns einmarschieren?“ Der Krieg war fast vorbei. 1988 nahm die sandinistische Regierung Verhandlungen mit den Contras auf und schloss schließlich einen Waffenstillstand. Pablo Aráuz lag nach einem Motorradunfall fast ein Jahr im Armeekrankenhaus und musste in Kuba operiert werden. Dann nahm er seinen Abschied, wurde aber von der Armee für einen Bürojob in Somoto eingesetzt.

Nach der Ermordung seines Bruders 1974 wollte Pablo unbedingt dessen Platz in der Guerilla einnehmen

Als die Wahlen vom Februar 1990 herannahten, hatte sich die Welt verändert. Binnen wenigen Wochen waren die europäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion wie Dominosteine ins westliche Lager gekippt. Die USA fühlten sich gestärkt. Michail Gorbatschow hatte Reagans Nachfolger George Bush senior signalisiert, dass er das wirtschaftlich und militärisch von Moskau abhängige Nicaragua nicht weiter aufrüsten wolle. Trotzdem war Pablo Aráuz überzeugt, dass Daniel Ortega in den Wahlen als Präsident bestätigt würde: „Selbst der Dümmste hat damals gesagt, die Sandinisten gewinnen“. Das sagten die Umfragen, und schließlich hielt die Revolution die nationale Souveränität gegen die USA hoch. Im Rückblick sieht er die Lage klarer. Die kriegsbedingte Wirtschaftsmisere und der unpopuläre Wehrdienst waren die wichtigsten Verbündeten der Opposition: „Wenn Daniel Ortega den Wehrdienst abgeschafft hätte, dann hätte er gewonnen – aber der Krieg wäre weitergegangen. Also stimmten die Menschen gegen den Krieg.“ Die von den USA zusammengeschweißte Opposition unter Violeta Barrios de Chamorro gewann deutlich. Das sandinistische Jahrzehnt war zu Ende.

„Baretas“ Leben änderte sich mit einem Schlag. Er nahm endgültig seinen Abschied von der Armee, die in kurzer Zeit von fast 190.000 Mann auf 20.000 Soldaten verkleinert wurde. „Ich habe keine Abfindung und kein Land genommen, wie es den Soldaten angeboten wurde.“ Das gebot ihm sein Stolz. Seither schlägt er sich als selbstständiger Lastwagenfahrer und Mechaniker durch. „Das ist nicht leicht, allein in Somoto gibt es über hundert selbstständige Transportunternehmer mit eigenem Lkw.“

Pablo Aráuz lebt in erster Linie von öffentlichen Aufträgen der Gemeinde. Da trifft es sich gut, dass seine Schwester Blanca Nubia als Vizebürgermeisterin ein Wörtchen mitzureden hat. Aber so gut lief es nicht immer. Deswegen suchte er im Jahr 2000 wie tausende Landsleute sein Glück in den USA, wo die Mutter seiner ersten drei Kinder lebte. Er fand schnell einen Job: „Ein halbes Jahr war ich in Miami und habe dort auf dem Bau gearbeitet“, erzählt er: „Stell dir vor, eine Zeit lang war ich sogar im Dienst ehemaliger Contra-Kämpfer.“ Nach einem weiteren halben Jahr, das er in Tennessee damit zubrachte, Markierungsstreifen auf Landstraßen zu malen, ging er zurück nach Nicaragua.

Friedlicher Lkw-Fahrer

Pablo Aráuz ist kein Fanatiker. „Ich bin in der Nachbarschaft von Liberalen umgeben und komme mit ihnen persönlich gut aus“, sagt er. Er weint zwar der Revolution nach, weil die Menschen damals an etwas glaubten, fängt aber keinen Streit an, wenn jemand anderer Meinung ist.

Für ihn aber ist die Revolution immer noch das Beste, was dem Land passiert ist: „Schau dir nur an: Heute sind Zwölfjährige schon drogenabhängig und Dreizehnjährige gehen auf den Strich. Damals hat es das nicht gegeben.“ Jetzt suche jeder, wie er über die Runden komme, Gemeinwohl sei kein Thema mehr.

Vom Foto, das ihn berühmt gemacht hat, hängt kein Poster an der Wand, zu Hause bei Pablo Aráuz. Sein Ruhm ist ihm auch ein bisschen unangenehm, Interviews gibt er fast nie. Er findet aber zwei Postkarten mit dem bekannten Sujet. Die letzten von 200 Stück, die ihm die Fotografin geschenkt hat, als sie Jahre später zu Besuch kam. Sie sind verblasst und abgegriffen, ganz anders als die Erinnerungen an eine Revolution, die Nicaragua ein Jahrzehnt lang zum Schauplatz der Weltgeschichte gemacht hatte.

■ Der Autor war von 1985 bis 1996 taz-Korrespondent in Nicaragua. Er leitet im Oktober eine tazreise in die Region (www.taz.de/tazreisen)