Weiterer Killerpolizist bleibt unangetastet

USA Auch im Fall des in New York zu Tode gewürgten Schwarzen Eric Garner sieht eine Grand Jury keinen Grund für eine Anklage

AUS NEW YORK DOROTHEA HAHN

„Wessen Straße? Unsere Straße!“ Zu diesem Schlachtruf – sowie zu den tausendfach wiederholten letzten Worten von Eric Garner: „I can’t breathe“ – legten DemonstrantInnen am späten Mittwochabend weite Teile von Manhattan lahm. Unter anderem blockierten sie zentrale Verkehrsknotenpunkte, darunter den Lincoln Tunnel, den Grand Central Bahnhof, den West Side Highway, Times Square und die Brooklyn Bridge. Eine Blockade des Rockefeller Centers misslang.

Die Polizei überflog Manhattan bis tief in die Nacht mit Hubschraubern, kam mit Helmen und Schlagstöcken auf die Straße und nahm bis Mitternacht Dutzende Menschen fest. Unter den jungen Leuten, die in vielen getrennten Demonstrationen im Laufschritt durch die nächtlichen Straßen von New York liefen, waren neben schwarzen Jugendlichen auch mindestens ebenso viele weiße.

Am späten Nachmittag hatte eine Grand Jury in dem New Yorker Bezirk Staten Island entschieden, den Polizisten Daniel Pantaleo nicht anzuklagen. Nicht wegen Mordes und nicht einmal wegen fahrlässiger Tötung.

Am 17. Juli hatte ein Polizist Eric Garner auf der Straße wegen des angeblichen illegalen Zigarettenverkaufs zur Rede gestellt. Garner, sechsfacher Vater, reagierte mit den Worten: „Jedes Mal, wenn ihr mich seht, macht ihr diesen Mist. Ich bin es leid. Es hört heute auf. Ich verkaufe nichts.“

Sekunden später nahm der weiße Polizist Daniel Pantaleo den unbewaffneten Schwarzen, Eric Garner (47), in einen Würgegriff, warf ihn zu Boden und lockerte den Griff auch nicht, als der Asthmatiker Garner mehrfach „Ich bekomme keine Luft“ gestöhnt hatte. Wenig später war Garner tot. Mindestens vier weitere Polizisten hielten Garner dabei in einer Bauchlage fest. Das einzige „Vergehen“ von Garner war es, dass die Polizei ihn verdächtigte, auf der Straße steuerfreie Zigaretten einzeln verkauft zu haben. Dafür war Garner bekannt im Viertel – bestritt den Vorwurf vor Ort jedoch.

„Ich frage mich, welches Video die Grand Jury gesehen hat“, sagte Gwen Carr, die Mutter des toten Eric Garner am Mittwochabend. Und Esaw Garner, die Witwe, lehnte die Entschuldigung ab, die der Polizeioffizier kurz nach dem Entscheid der Grand Jury an die Familie seines Opfers gerichtet hatte. „Ich fühle mich sehr schlecht wegen des Todes von Herrn Garner“, schrieb Pantaleo. Die Witwe erwiderte: „Er hatte genügend Zeit zum Bedauern, als mein Mann in seinem Würgegriff elf Mal rief: Ich kann nicht atmen.“

Das Szenario von Staten Island erinnert an das von Ferguson, wo eineinhalb Wochen zuvor ein anderer weißer Polizist von einer Grand Jury von jedem kriminellen Verdacht reingewaschen worden war. Doch die Entscheidung von Staten Island ist noch radikaler.

Denn anders als von der Erschießung des unbewaffneten schwarzen Teenagers Michael Brown in Ferguson, gibt es in Staten Island ein Video, das den kompletten Polizeieinsatz zeigt, der mit dem Tod von Eric Garner endete. Ein Passant filmte die Szene am 17 Juli mit seinem Handy und stellte sie ins Internet. Wenige Tage später verhaftete die Polizei den Passanten wegen eines angeblichen Deliktes.

Beinahe zum selben Zeitpunkt stellte ein amtlicher Gerichtsmediziner in New York fest, dass Eric Garner einer „Tötung“ zum Opfer gefallen war. Als Todesursachen nannte der Gerichtsmediziner: „Würgegriff“, „Pressung der Brust“ und die erzwungene „Bauchlage“ des Opfers.

In Staten Island leben zahlreiche Polizisten und ihre Angehörigen. Politisch ist es der konservativste New Yorker Bezirk. Mit der Entscheidung der Grand Jury scheint der Weg zu einem Strafverfahren gegen den 29-jährigen Polizisten verbaut. Unabhängig davon verlangen die Angehörigen des Toten in einem getrennten Verfahren Schadenersatz von der New Yorker Polizei.

Und US-Justizminister Eric Holder erklärte umgehend nach Bekanntwerden der Grand-Jury-Entscheidung, dass er getrennte Untersuchungen über eine mögliche Verletzung der Bürgerrechte von Eric Garner einleite – genau wie im Fall Mike Brown. Und wie im Fall des ebenfalls unbewaffneten 17-jährigen Trayvon Martin, der 2012 in Florida von einem Wachmann erschossen wurde. Die Ermittlungen dauern an, kaum jemand rechnet mit einer Anklage.

New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio zeigte Verständnis für die Empörung über den Grand-Jury-Entscheid, stellte aber zugleich ein hartes Durchgreifen seiner Polizei in Aussicht. Ein paar Stunden zuvor hatte der linke Demokrat es in einem Interview abgelehnt, den polizeilichen Würgegriff grundsätzlich zu verbieten. De Blasio will den Umgang mit der gefährlichen Methode der New Yorker Polizei überlassen – die allerdings hat ihren Beamten die Anwendung von Würgegriffen schon vor vielen Jahren untersagt, ohne dass deren Anwendung jedoch strafrechtlich verfolgt würde. „Es gibt Ausnahmesituationen, in denen das Leben eines Beamten wirklich in Gefahr ist“, sagte de Blasio schon im September. In solchen Situationen müssten die Polizisten flexibel reagieren dürfen.

Auch Barack Obama schaltete sich erneut in die erhitzte Debatte über Polizeigewalt gegen Angehörige von Minderheiten und institutionellen Rassismus ein. Einmal mehr versicherte der Präsident, dass er „absolut engagiert“ sei, aus den USA ein Land zu machen, „in dem jeder an das Prinzip glaubt, dass wir gleich vor dem Gesetz sind“.

„Shut it down“ riefen unterdessen DemonstrantInnen in New York: „Legt alles still“. Die Proteste am Mittwoch in New York, in Washington DC, in Seattle, in Oakland und in Ferguson waren erst der Anfang. Für Donnerstag waren in zahlreichen Städten neue Demonstrationen gegen den Freibrief geplant.

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