24 Stunden Berlin im Fernsehen: Diesmal schaut ihre Welt auf sie

Anneliese Bullack hat an diesem Samstag ihren großen Auftritt im Fernsehen: 80 Kamerateams haben mit einem 24-stündigen Film den Alltag in der Stadt porträtiert.

Zwei weitere Protagonisten in der Berlin-Doku: Ein Paar auf dem Potsdamer Platz Bild: dpa

Im Fernsehen war Anneliese Bullack noch nie. Sie schaut nur sehr gerne fern. "Ich muss doch wissen, was in der Welt passiert", sagt die 80-Jährige. Ihre Welt sind Nachrichten, Sportschau, aber auch "Soko" und "Der Alte". Ausgerechnet sie kommt jetzt ins Fernsehen. Und zwar ganz unvermittelt: Der Vorstand ihrer Kleingartenkolonie Birkenwäldchen, in der sie seit fast einem halben Jahrhundert Mitglied ist, hatte sie gefragt, ob sie nicht auftreten wolle in einer Doku-Sendung. Ein Filmteam hatte den Vorstand angerufen, der hatte gleich an sie gedacht. "Mein Mundwerk", dachte Bullack. "Sollen die mal machen."

Von der Größe des Filmprojekts ahnte die Rentnerin damals nichts. "24h Berlin". Eine 24-Stunden-Dokumentation mit keinem geringeren Ziel, als die Wirklichkeit der Hauptstadt abzubilden. 80 Drehteams richteten ihre Objektive am 5. September 2008 unter Leitung des Dokumentarfilmers Volker Heise auf Menschen der Stadt: 24 Stunden lang begleiteten sie Berliner in ihrer Lebenswelt. Vom Bild-Chef bis zur Hartz-IV-Empfängerin, vom Stardirigenten bis zur Drag-Queen, vom Berghain-DJ bis zu Anneliese Bullack, die alleine in ihrer Charlottenburger Wohnung lebt und gerne kocht. Ein Drei-Mann-Filmteam machte aus der Rentnerin die "Filmschauspielerin Anneliese", wie sie heute von Freunden in ihrer Gartenkolonie genannt wird. Ihre Rolle war einfach: Sie musste einfach nur sich selbst spielen.

Wenige Tage vor der Ausstrahlung der Sendung sitzt Bullack auf ihrem roten Stoffsofa. Sie kann nicht mehr so gut gehen wie vor einem Jahr beim Drehtermin. Daher bringt ihr Schwiegersohn jetzt die Kaffeetassen und die Kekse und stellt sie auf den weißen Fliesentisch vor dem Fernseher. Ohne Rollator verlässt sie das Sofa nicht. Auch Bullacks Tochter ist gekommen, wie jeden Tag. Ihre 19-jährige Enkelin sitzt in schwarzen Highheels am Esstisch und tippt Nachrichten in ihr Handy. Auch sie besucht ihre Oma mehrmals die Woche. "Jeden Tag um zwei kommt die Tochter, um Viertel vor vier mein Sohn Michael, um fünf mein Sohn Detlef, und zwischendurch kommen die Enkel und mein Stiefsohn", erzählt Bullack und lacht laut auf, "so ist es, wenn man Kinder hat. Das ist schon was wert."

Bevor Bullack mitmachen konnte bei "24h Berlin", musste sie zum Casting. Genauer gesagt kam das Casting zu ihr in die Kleingarten-Kolonie Birkenwäldchen. Die Videoaufzeichnung besitzt Bullack noch und sieht sie sich oft an. Ein wenig spitzt sie dabei ihren Mund, lächelt, achtet darauf, wie die anderen im Raum sie wahrnehmen. Sie beobachtet sich selbst auf dem Bildschirm mit einer Mischung aus Skepsis und Kopfschütteln. Im Video schlendert Bullack durch ihren Kleingarten, erzählt vom Leben nach dem Krieg in Berlin und zeigt den Kameras ihr Gemüse. In den Kleingarten fährt Bullack heute nicht mehr so oft wie früher, es sind etwa drei Mal pro Woche. Das vergangene Jahr hat ihr die Beweglichkeit geraubt. Vielleicht blickt sie auch deshalb ein wenig skeptisch auf den Fernsehbildschirm.

Für das Filmprojekt ist Bullack nur ein Stück des großen Puzzles, das zusammengesetzt die Berliner Wirklichkeit ergeben soll. Eine kleine Episode aus 750 Stunden Filmmaterial. Für Bullacks Familie und Freunde aber ist es ein Filmprojekt über Anneliese. Sie scheint das zu wissen und sammelt alles, was sie mit dem Projekt verbindet. Sie hat einen Programmhinweis zu "24h Berlin", in dem ihr Name mit einem kleinen Foto auftaucht, ausgeschnitten und in eine Klarsichthülle gepackt. Das letzte Mal, dass sie Artikel aufgehoben hat, war in den Tagen des Mauerfalls.

Was die Zuschauer am Samstag sehen werden, ist nur ein Bruchteil des Tages, den Bullack am 5. September 2008 erlebt hat. "Schon um Viertel vor sieben sind die gekommen, und erst um halb elf nachts wieder gefahren", erinnert sie sich. "Die blieben so lange, bis ich ins Bett bin. Aber als sie weg waren, bin ich nochmal aufgestanden, habe mich aufs Sofa gesetzt und ein wenig ferngesehen." Die Kameras begleiteten sie auf dem Weg zum Wochenmarkt und zum Schlachter. Sie sahen ihr dabei zu, wie sie in ihrer Küche Kartoffelsuppe kochte. "Die waren furchtbar nett, der Regisseur und auch die Frau an der Kamera, eine Französin war das", sagt Bullack.

Am Samstag, dem Tag der Ausstrahlung, wird es nicht viele Zufälle geben im Hause Bullack. Von neun Uhr morgens bis um elf und dann wieder von zwölf bis halb eins ist Bullack immer wieder zu sehen. "Eine Schulfreundin aus Spandau hat alle angerufen und gesagt, dass ich ins Fernsehen komme", sagt Bullack und lacht wieder. Eines ihrer Kinder wird sie nach der Show abholen und mit ihr in die Kleingartenkolonie fahren. Die "Filmschauspielerin Anneliese" wird Eisbein essen auf dem Festplatz. Auch ihre Schwester wird kommen, sie bringt Pflaumenkuchen mit. Es wird ein schöner Tag. Anneliese Bullack wird sich auf ihrem Sofa selbst gesehen haben. Und sie schaut gerne fern. Erfahren, was in der Welt passiert. Doch eigentlich bräuchte sie für ein paar Stunden am Samstag den Fernseher dafür nicht. Diesmal schaut ihre Welt auf sie.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.