Eigentlich war mal wieder Adolf Hitler schuld

KENNEN SIE BERLIN? (TEIL 4) Das Spreedreieck und die teuerste S-Bahn-Treppe der Welt

■ Alteingesessene und Altzugezogene werden abwinken, aber auch ihnen bietet der neue Berlin-Reiseführer des Trescher Verlags neue Einsichten: 15 taz-Autoren erzählen über den Band verteilt Geschichten von Orten, die auf eine besondere Weise das Wesen der Metropole verkörpern. Wir präsentieren eine Auswahl.

■ S. Klimann, R. Knoller, C. Nowak: „Berlin“. Trescher 2011, 471 Seiten, 400 Fotos, 17 Detailkarten, 16,95 Euro Erhältlich ist der Reiseführer auch im taz-Shop: unter shop.taz.de oder – ganz real – in der Rudi-Dutschke-Straße 23, 10969 Berlin

Er ist rundlich. Und nicht eckig wie die meisten Häuser Berlins. Aber ansonsten ist der Neubau zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Spree nicht weiter auffällig. Untendrin sind ein paar Modegeschäfte, oben hocken die Wirtschaftsberater von Ernst & Young. Und dennoch ist dies ein Ort, der randvoll mit Geschichte ist: revolutionäre Architektur, deutsche Theatergeschichte, die Teilung der Stadt, ein berlintypischer Bauskandal, die teuerste S-Bahn-Treppe der Welt. Und natürlich haben hier auch die Nazis mitgespielt.

Schon 1921 hatte die Akademie für Bauwesen erklärt, an diesem Platz könne ein Hochhaus das Stadtbild in kraftvoller Weise bereichern. Die eigens gegründete Turmhaus AG lobte einen Wettbewerb aus, der Architekturgeschichte schrieb, weil Ludwig Mies van der Rohe einen gläsernen Zwanzigstöcker vorschlug. Beim Wettbewerb selbst fiel er zwar durch, doch sein Entwurf wurde zur Ikone der Architekturgeschichte, die heute auf keiner Bauhaus-Ausstellung fehlen darf. Gebaut wurde allerdings erst viel später – und viel kleiner. 1962 entstand der „Tränenpalast“ genannte gläserne Bahnhofsvorbau, durch den man mit dem richtigen Pass die hier mitten in Ostberlin auch nach dem Mauerbau noch gen Westen fahrenden Züge erreichen konnte.

Richtig Schwung kam erst im Jahr 2001 in die Geschichte. Der Hamburger Investor Harm Müller-Spreer bekam das Grundstück vom Land Berlin. Dummerweise hatte die zuständige Senatsverwaltung übersehen, dass ein Stück des Areals der Bahn gehörte, weil untendrunter die S-Bahn durch einen Tunnel fährt. Exakt ging es um 45 Quadratmeter, die dem Land nicht gehört hatten. Das wurde teuer. Der Investor bekam 8 Millionen Euro vom Kaufpreis erstattet, dazu Ersatzgrundstücke, später die Erlaubnis, höher zu bauen. Dagegen klagten wiederum Nachbarn, so dass das Land Berlin ihnen weitere 4 Millionen Euro Schadenersatz zahlen musste.

Ein Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses versuchte herauszufinden, wie viel der Schlamassel insgesamt gekostet hat. Und wer denn die Hauptschuld zu tragen habe. Einig wurden sich die Politiker nicht. Dabei gäbe es einen Bösen, auf den sich sonst gern alle einigen können. Denn Auslöser der Kettengeschichte war natürlich Adolf Hitler. Die Nazis hatten einst das Deutsche Theater von dem jüdischen Regisseur Max Reinhardt konfisziert. Dessen Erben hatten nach dem Mauerfall erst die Rückgabe des Theaters beantragt, dann ihre Ansprüche an den Hamburger Investor verkauft. Und damit die Stadt ihr Theater behalten durfte, gab sie schließlich ersatzweise das Spreedreieck her.

Blick aus dem Fenster

Ludwig Mies van der Rohe schlug einen gläsernen Zwanzigstöcker vor

Wer nun die millionenschwere Treppe in den S-Bahn-Untergrund bewundern will, der findet sie nördlich des Tränenpalastes am Reichstagufer. Wer aber wissen will, welche Chance auf dem Spreedreieck verpasst wurde, muss ein paar Meter die Friedrichstraße runtergehen. Im dritten Stock des Kulturkaufhauses Dussmann steht in der Reiseführerabteilung ein Sofa. Von dort blickt man durch ein großes Fenster auf die sehr urbane Straße und erkennt sofort, was für ein herausragender Akzent der vor rund 90 Jahren von Ludwig Mies van der Rohe vorgeschlagene Zwanzigstöcker wäre. Tatsächlich hat es trotz all der verschwendeten Millionen am Ende doch nur für ein handelsübliches Bürohaus gereicht, das nur knapp den Bahnhof überragt.

GEREON ASMUTH