Ausbeuterische Verhältnisse

AUSBILDUNG I Sie arbeiten wie fertige Fachkräfte, aber ohne die entsprechende Bezahlung: Psychotherapeuten in Ausbildung wehren sich gegen ihre prekären Bedingungen

Selbstständig arbeiten, den Dienstbetrieb am Laufen halten

VON SEBASTIAN PUSCHNER

Wenn Fabian Ludwig * mit seinen psychisch kranken Patienten im Stuhlkreis sitzt, geht es um die alltäglichsten Dinge. Um ein neues Handy etwa, das nicht funktioniert. Sie machen dann ein Rollenspiel: Ein Patient mimt den reklamierenden Kunden, einer den Verkäufer, hinterher gibt die Gruppe Feedback, Ludwig moderiert die Sitzung. Er sagt: „Die Patienten brauchen das, denn vielen fehlen grundlegende soziale Kompetenzen, um positive Alltagserfahrungen zu machen.“ Um als Käufer eines kaputten Handys erfolgreich sein Recht durchzusetzen etwa. Die Patienten im Stuhlkreis leiden unter Depressionen, Angsterkrankungen, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörungen.

Ludwig ist Ende 20, arbeitet als „Psychotherapeut in Ausbildung“ (PiA) an der Charité – und verstößt täglich gegen seinen Vertrag mit der Uniklinik. Denn jener Vertrag schreibt vor, „dass es nicht zu einer hauptberuflichen Tätigkeitsausübung kommt, die durch Eingliederung in den Dienstbetrieb und überwiegend selbstständige Tätigkeit gekennzeichnet ist.“ Doch genau das macht Ludwig: selbstständig arbeiten und damit den Dienstbetrieb seiner Abteilung am Laufen halten. Er diagnostiziert, leitet Einzel- und Gruppentherapien, spricht mit Angehörigen seiner Patienten und schreibt Arztbriefe für deren Nachbehandlung. So wie viele PiA.

Wer Psychotherapeut werden will, muss nach seinem Studium noch eine mindestens dreijährige Ausbildung absolvieren. Dazu gehören 1.200 Stunden in einer psychiatrischen Klinik. Dort soll der Nachwuchs Störungsbilder und Behandlungsmethoden „unter fachkundiger Anleitung und Aufsicht“ kennenlernen – so steht es in der Ausbildungsverordnung. Tatsächlich arbeiten die PiA in vielen Kliniken wie ausgebildete Fachkräfte, nur ohne Bezahlung. Leisten kann sich das nur, wer sich einen Nebenjob zulegt, Unterhalt von seinen Eltern bekommt oder einen Kredit aufnimmt.

Fabian Ludwig hat sich erst einmal 10.000 Euro von einem Onkel geliehen – zinslos. 150 Euro pro Monat zahlt ihm die Charité, deklariert als Forschungsförderung, denn offiziell angestellt ist Ludwig als Gastwissenschaftler. „Ich tue so, als würde ich meine Diplomarbeit noch einmal schreiben“, sagt er.

Protest gegen die prekären Bedingungen gibt es seit Jahren, zuletzt demonstrierten Ende 2012 in Berlin 500 PiA. Beim Klinikkonzern Vivantes trägt das erste Früchte: seit Kurzem erhalten die dort rund 40 tätigen PiA 850 Euro pro Monat. Damit sei zwar lediglich eine Minimalforderung erfüllt, sagt Katharina Simons, die ihre praktische Tätigkeit bei Vivantes absolviert hat und Sprecherin der deutschlandweiten Protestgruppe „PiA für gerechte Bedingungen!“ ist: „Aber es ist ein Anfang.“ Zudem würden die Kliniken zunehmend nervös, seitdem erste Klagen von PiA vor Arbeitsgerichten Erfolg hatten.

An der Charité mit aktuell 46 PiA ist von dieser Nervosität noch nicht viel zu spüren. In einem offenen Brief forderten die Auszubildenden im Februar 2013 den Vorstandsvorsitzenden Karl Max Einhäupl zu Verhandlungen über bessere Bedingungen auf. Passiert ist bisher nichts.

Es sei schwierig, den Protest nachhaltig am Leben zu halten, sagt Fabian Ludwig. Denn die PiA-Phase sei nach höchstens anderthalb Jahren vorbei, und viele handelten nach dem Motto „Augen zu und durch“. Dabei stehe gerade das im Gegensatz zum eigentlichen Ethos des Therapeutenberufs, sagt Ludwig: „Wir bringen unseren Patienten emanzipatorisches Verhalten bei, arbeiten aber selbst in ausbeuterischen Verhältnissen.“

*Name geändert