Religionsunterricht an Berliner Schulen: Wer lehrt die Würde des Menschen?

Postsäkulare Gesellschaft? Kulturkampf? Schwere Geschütze werden in der Debatte zur Berliner Abstimmung um Pro Reli aufgefahren. Ein genauer Blick auf die Argumente.

Setzt auf Argumente plus prominente Gesichter: die Pro-Reli-Kampagne. Bild: ap

Der beste Grund dafür, im Bundesland Berlin den konfessionellen Religionsunterricht als ordentliches Wahlpflichtfach einzuführen, liegt in der auch im Grundgesetz geforderten Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Denn in allen anderen Bundesländern - mit Ausnahme Bremens und teilweise Brandenburgs - gibt es ihn schon. Indes: Der Verfassungsgeber hat es anders gewollt. In Bildungsfragen folgt der deutsche Staat dem Föderalprinzip, womit genau die Herstellung gleicher Verhältnisse ausgeschlossen ist.

Alle anderen von Pro Reli und ihren kirchlichen und parteipolitischen Trittbrettfahrern vorgebrachten Argumente halten bei genauerem Blick in der Sache selbst nicht stand.

Das erste Argument behauptet: Die im Grundgesetz gegebene Garantie für Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach ist eine Reaktion auf die nationalsozialistische Einschränkung der Religionsfreiheit, und nur ein freier konfessioneller Unterricht kann totalitärer Indoktrination entgegenwirken.

Tatsächlich spricht weder die Geschichte des Nationalsozialismus noch die Geschichte der Weimarer Republik im Geringsten dafür. Ein Blick auf die Lebensläufe sowohl von nationalsozialistischen Verbrechern als auch von Mitläufern zeigt, dass sie in der Masse aus konventionell christlichen Familien kamen und in ihrer Schullaufbahn konfessionellen Unterricht durchliefen. Am ehesten noch motivierte in Deutschland - in Österreich war es etwas anders - ein konservatives, der Zentrumspartei verbundenes katholisches Milieu, zu dem der katholische Religionsunterricht integral gehörte, wider eine allzu große Nähe zum Nationalsozialismus; politisch wurde diese Distanz aber dann recht schnell ausgehebelt.

Die durchaus überschaubaren Ausnahmen - etwa die "Weiße Rose" - lassen eher liberale Elternhäuser als Ursache von Widerständigkeit erscheinen. Gegen Antisemitismus und Judenmord immunisierte das katholische Milieu nicht: Mutig genug setzte sich Kardinal Galen gegen die "Euthanasie" ein - bis zu einer Fürsprache für die Juden reichte sein Mut nicht. Nicht anders die protestantische, die "Bekennende Kirche". Auch sie schwieg in ihrer überwiegenden Mehrheit zum Judenmord und sorgte sich nur darum, dass innerkirchlich die völkische Theologie nicht die Überhand gewinnen sollte. Von einer Widerständigkeit weckenden massenhaften Wirkung des evangelischen Religionsunterrichts ist nichts bekannt.

Zweites Argument

Das zweite Argument behauptet: Die im Ethikunterricht gegebenen Informationen über Religion verletzen die grundgesetzlich verbürgte Religionsfreiheit.

Auch dies Argument ist haltlos. Konsequent zu Ende gedacht, würde es darauf hinauslaufen, dass jede halbwegs gründliche Information oder Aussprache über den christlichen, jüdischen oder islamischen Glauben im Geschichtsunterricht, in der Kunstgeschichte, der Gemeinschaftskunde oder im Deutschunterricht zu untersagen ist. Oder wenigstens ist er den Religionsgemeinschaften zur gefälligen Überprüfung und Absegnung vorzulegen - eine Überlegung, auf die bisher mit gutem Grund auch die überzeugtesten Verfechter der Religionsfreiheit nicht gekommen sind. Von einer Verletzung der Religionsfreiheit ließe sich sprechen, wenn es außer diesen Informationen im schulischen Unterricht keine Möglichkeit gäbe, Bekenntnisunterricht zu erhalten. Diese Möglichkeit wird aber in Berlin ohne Einschränkung gegeben. Das Beharren darauf, dass freiwilliger Religionsunterricht keine ausgleichsfähigen Noten enthalte, aber verrät die Sache des Glaubens und würdigt den Religionsunterricht zum niedrigschwelligen Lockmittel in der Leistungsgesellschaft herab.

Drittes Argument

Das dritte Argument behauptet: Eine vom demokratischen Rechtsstaat betriebene Werteerziehung ist totalitär.

Damit kommen wir zum Kern der Debatte. Denn kann es wirklich totalitär sein, wenn der weltanschaulich neutrale, nicht laizistische Staat auch in Schule und Unterricht die Werte vermittelt, auf denen er gründet? In Art. 1 (1) Grundgesetz lesen wir: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Absatz 3 führt aus: "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht." Diese Formel bindet sowohl die Ausübung des konfessionellen Bekenntnisunterrichts als auch - wie in den Schulgesetzen aller Bundesländer schnell nachzulesen ist - die normativen Ziele aller anderen Fächer. Es ist unlogisch zu behaupten, dass die Vorgaben von Artikel 1 einzig und allein im Religionsunterricht gelehrt werden dürfen. Auch der Sache nach ist nicht einzusehen, warum ein Ethikunterricht, der die "Würde des Menschen" mit philosophischen Argumenten vertritt, totalitär sein soll. Wäre das der Fall, dann wäre das Grundgesetz mit seinen starken Wertungen selbst totalitär - eine zwar falsche, aber durchaus mögliche radikal-liberale Position, gemäß derer Werte reine Privatsache sind.

Es war der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, der sich dagegen verwahrte, den konfessionellen Religionsunterricht als staatlich geförderte Wertevermittlungsagentur zu betrachten. Das ist legitim, zieht aber die Frage nach sich, was es denn mehr und anderes - neben der Kenntnis der kulturell-religiösen Tradition und ihrer Texte - ist, was das Eigene des Glaubens ausmacht. Die Antwort ist schnell gefunden: Sofern es sich um mehr als um Ethik und Moral handelt, kann es nur um bestimmte Formen des Erlösungswissens gehen. Sie in ihrer Wahrheit zu beurteilen, dazu ist eine säkulare oder agnostische Haltung in der Tat nicht geeignet. Umgekehrt ist nicht einzusehen, warum wider alle historische Erfahrung nur dieses von Ethik gelöste Erlösungswissen ein Antidot gegen totalitäre Einstellungen sein soll.

So richtig es ist, dass der humanistische und aufklärerische Begriff der "Würde des Menschen" biblische und koranische Wurzeln hat, so sehr trifft es eben auch zu, dass die in der späten Antike entstandenen monotheistischen Religionen beinahe 2.000 Jahre gebraucht haben, bis sie sich sehr allmählich vorbehaltlos zu diesem Prinzip bekennen konnten, ohne dass dieser Prozess bereits abgeschlossen wäre.

Ausblick

Ein Blick auf die neuere politische Philosophie mag die Debatte entkrampfen. Der Philosoph John Rawls machte klar, dass die Grundsätze erfolgreicher Demokratien auf einem - historisch je unterschiedlich zustande gekommenen - overlapping consensus beruhen, also auf Werten, die unterschiedlichen Traditionen entstammen.

In Deutschland hat sich dieser Konsens in Artikel 1 des Grundgesetzes kondensiert. Er speist sich aus den negativen Erfahrungen der NS-Zeit, einer neuthomistisch katholischen Naturrechtslehre und - last but not least - aus der Philosophie Immanuel Kants. In seiner "Metaphysik der Sitten" entfaltet er den Begriff einer aus der Autonomie im Grundsatz freier Menschen erwachsenen Würde. In seinem Reich der Zwecke "hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde."

An diesem Geist, dem Geist der unverletzlichen Würde eines jeden Menschen, muss sich ein auf dem Grundgesetz, Artikel 1 beruhender Ethikunterricht orientieren. Er soll diese Überzeugung den Schülerinnen und Schülern systematisch, anschaulich und lebenspraktisch vermitteln, mithin die Prinzipien eines toleranten, solidarischen und glücklichen Zusammenlebens lehren. Tut er das, leistet er mehr, als den Religionen ihren verfassungsmäßigen Raum zu garantieren. Er schützt die Religionen vor sich selbst.

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