Vom Hauptschulabschluss zum Abitur

FÖRDERUNG Über Durchlässigkeit von Bildungseinrichtungen wird viel gesprochen. An Oberstufenzentren wird sie schon lange praktiziert

■  Oberstufenzentren (OSZ) gibt es derzeit in Berlin und Brandenburg. An den ab Klasse 11 beginnenden Schulen können SchülerInnen Abitur oder Fachabitur machen, dazu Berufsausbildungen erwerben oder an berufsvorbereitenden Ausbildungsgängen teilnehmen.

■  Mit Berlins Schulreform gewinnen die OSZ an Bedeutung. Neben dem Gymnasium soll in Berlin künftig nur eine weitere Oberschulform existieren: die Sekundarschule. Auch sie soll SchülerInnen – in 13 Jahren – zum Abitur führen. Viele Sekundarschulen werden aber keine eigene Oberstufe haben, sondern mit den Oberstufenzentren kooperieren. Die offenen Oberstufen mit vielfältigen Bildungsmöglichkeiten und Abschlüssen könnten auch in anderen Ländern, die mit längerem gemeinsamem Unterricht mehr Kinder zu besseren Abschlüssen führen wollen, Schule machen.

VON KATRIN SCHAAR

„Das ist meine letzte Chance“, sagt Kemal. Er ist 23 Jahre alt und kommt aus der Türkei. Gerade ist er dabei, Visitenkarten für sich anzufertigen. Zusammen mit 30 Mitschülern sitzt er in einem von acht Lernbüros im Oberstufenzentrum Bürowirtschaft und Dienstleistungen in Berlin. Kemal hat schon mehrere Anläufe hinter sich: Vor sechs Jahren machte er seinen Realschulabschluss, das Abitur an der Oberstufe eines Gymnasiums brach er ab, ebenso wie seinen zweijährigen Versuch an der Fachoberschule. Schlechte Aussichten, könnte man meinen. Doch nun hat er sich noch einmal aufgerafft und will es in einem kombinierten Ausbildungsgang schaffen. Das Pankower Oberstufenzentrum eröffnet ihm neue Möglichkeiten: In drei Jahren kann Kemal hier eine Ausbildung als Bürokaufmann machen und gleichzeitig seine Fachhochschulreife erreichen. Diese doppelte Qualifizierung ist selten, bildet aber in Pankow einen Schwerpunkt.

Neben Kemal sitzt Erol (18), ebenfalls türkischer Abstammung. Auch seine beruflichen Perspektiven waren mit einem erweiterten Hauptschulabschluss zunächst begrenzt. Am Oberstufenzentrum konnte er in einem Jahr seinen mittleren Schulabschluss nachholen. „Dann habe ich geguckt, was ich für Möglichkeiten danach habe, und gesehen, dass die hier auch das Fachhochschulreife und eine Ausbildung gleichzeitig anbieten. Da hab ich mir gedacht: Wieso nicht? Die Fächer interessieren mich und ich kann gleich beides zusammen machen.“ Oberstufenzentren gibt es in Berlin seit 30 Jahren. Sie vernetzen schulische Inhalte mit Anforderungen der Arbeitswelt, bieten Berufsausbildungen, die Fachhochschulreife und das Abitur an. Berlinweit sind es mittlerweile 35 mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten: Bürowirtschaft, Agrarwissenschaft, Industrie und Datenverarbeitung oder Ernährung sind nur einige davon. Entstanden mit der Hoffnung auf mehr Chancengleichheit, sind sie Produkte der Bildungsreform der 70er.

Doch Chancengerechtigkeit und flexiblere Bildungsgänge sind auch aktuell von der Bildungspolitik stärker denn je gefordert, nicht zuletzt nachdem verschiedene Bildungsstudien auf den stark ausgeprägten Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland hingewiesen haben. Bund und Länder setzen nun auf mehr Durchlässigkeit ihrer Bildungseinrichtungen. So wünschte sich der Präsident der Kultusministerkonferenz Henry Tesch bei der Vorstellung der jüngsten OECD-Bildungsstudie, dass „noch mehr Menschen in Deutschland ein Aufstieg durch Bildung gelingt“.

Was hier gewünscht wird, wird an den Oberstufenzentren schon lange praktiziert. Das Oberstufenzentrum für Bürowirtschaft und Dienstleistungen beherbergt in dem großen Altbau auf mehreren Etagen verschiedene Bildungsgänge, die von 1.500 Schülern belegt werden. „Die Durchlässigkeit ist ein generelles Zeichen“, sagt der junge Schulleiter Stefan Marien. „Sie können hier mit einem erweiterten Hauptschulabschluss ankommen, dann die Berufsausbildung machen, und wenn Sie gut sind, dann können Sie auch die Fachhochschulreife oder das Abitur erwerben.“ Fünf Jahre würde das dauern. Doch wie oft kommt das wirklich vor?

Wolfgang Ellerbrock ist Abteilungsleiter für den Bereich, der sich um die Schüler kümmert, die mit dem erweiterten Hauptschulabschluss starten. Er spricht von ungefähr 20 Prozent, die es schaffen, am Ende die Fach- oder Allgemeine Hochschulreife zu erlangen. Bei den Schülern, die mit Realschulabschluss einsteigen, ist der Anteil noch höher. „Von 26 Schülern, die da am Ende in der Klasse waren, haben 22 die Fachhochschulreife geschafft, 8 machen jetzt noch das Abitur. Den IHK-Abschluss haben alle geschafft“, führt Stefan Marien aus. Doch warum sind die Schüler hier motivierter? „Viele Schüler, die herkommen, haben negative Erfahrungen in vielen Fächern gemacht“, so Wolfgang Ellerbrock. „Hier fangen sie wieder bei null an: Wirtschaftslehre, Rechnungswesen und Datenverarbeitung. Sie haben wieder die Chance, sich anders zu entwickeln und gute Zensuren zu bekommen.“ Schulleiter Marien spricht von einem „Kick“, den etliche Schüler bekommen.

Vielleicht liegt es auch daran, dass der Unterricht sehr handlungsorientiert ist: Im Zentrum der Ausbildung stehen Lernbüros und ein virtuelles Großhandelsunternehmen, das ökologische Büroartikel vertreibt. Die Klasse wird in sechs Filialen aufgeteilt, die Bestellungen abwickeln und Lieferungen an Kunden veranlassen müssen. Die Gruppen verfügen über ein bestimmtes Kapital, mit dem sie einkaufen können. Für die sechs Filialen sind insgesamt zwei Lehrer verantwortlich. Sie simulieren die Bank, die Kunden und die Lieferanten. Sie bestücken die Filialen mit Post, bestellen oder bestellen auch nicht, können liefern oder auch nicht, vergeben Kredite – oder auch keine.

Wenn sie sehen, dass eine Filiale besonders „fit“ ist, stellen die Lehrer schwierigere Aufgaben. So lernen die Auszubildenden Rechnungen schreiben, Verhandlungen führen und Unternehmenssoftware einzusetzen.

Im normalen Schulunterricht beobachtet Wolfgang Ellerbrock, dass „die Schüler auf die Uhr schauen und sich fragen, wann endlich die Stunde vorbei ist. Im Lernbüro muss man öfter sagen: Die Zeit ist schon längst überschritten. Die Schüler sagen, sie müssen ihre Briefe noch fertig schreiben oder dies und jenes noch fertig machen.“ In Theoriestunden wird dann auf die Praxis Bezug genommen.

Auch Erol fällt auf, dass hier alles stärker verknüpft ist als an anderen Schulen: „Wenn wir zum Beispiel eine Rechnung stellen lernen, sehen wir das in den anderen Fächern auch immer wieder. Wir lernen immer gleich auch die Anwendung.“ Und es geht anders zu als auf der Hauptschule, die er vorher besuchte. Am Oberstufenzentrum, meint Erol, sei alles sehr diszipliniert und organisiert. „Die Schüler machen auf jeden Fall mehr mit, die haben Ziele. Das war vorher nicht der Fall. Wenn man hier nichts macht, dann ist das peinlich. Deshalb ist hier auch der Standard anders, weil die Schüler hier von alleine kommen.“

„Die Schüler hier machen mit, die haben Ziele. Deshalb ist auch der Standard anders“

EROL, SCHÜLER

Die Schüler müssen nicht nur, sie wollen etwas erreichen. In dem mit 30 modernen Computerarbeitsplätzen ausgestatteten Lernbüro herrscht eine ruhige Arbeitsatmosphäre. Der Lehrer geht herum und berät bei der Erstellung der Visitenkarten. Später werden die Schüler hier in den „Filialen“ des Modellunternehmens arbeiten, sie werden Bestellungen für ökologisches Büromaterial aufgeben und Unternehmenssoftware nutzen. Diese Projektarbeit nimmt wöchentlich 10 von 34 Unterrichtsstunden in Anspruch.

„Manchmal, wenn Schüler schon weiter sind“, erklärt Stefan Marien später, „werden sie ins Open Learning Center geschickt.“ Da lernen sie selbständig. Das funktioniert selbst ohne Aufsicht. Der Raum ist überraschend groß, hell, modern. Niedrige Sofahocker laden zur Gruppenarbeit ein. Ebenfalls 30 Computerarbeitsplätze sind in dem offenen Raum und in einem großen, begehbaren, architektonisch gestalteten, orangefarbenen Klotz in der Mitte auf zwei Ebenen angeordnet. Daneben, durch eine Glaswand getrennt, die Bibliothek, „die allerdings immer nur auf Nachfrage geöffnet werden kann, weil der Schule keine Bibliothekarin zur Verfügung steht“, bedauert Marien. Das Open Learning Center könnte sich auch an einer Universität sehen lassen. Obwohl es vormittags ist, sind schon etliche Arbeitsplätze besetzt. Nachmittags, erläutert der Schulleiter, würde es richtig voll werden. „Das gibt’s sonst wohl kaum“, sagt er nicht ohne Stolz. Schüler nutzen ihre Freistunden, um hier Hausarbeiten zu machen und „natürlich auch zu chatten“.

Vormittags um 11 herrscht Arbeit vor. Auf dem kuriosen Klotz in der Mitte halten sich Schüler auf und arbeiten. Neben dem 27-jährigen Carsten liegt ein Buch von Thomas Mann. Er und sein Mitschüler Johannes (23) recherchieren für eine Facharbeit in Deutsch, was es mit dem griechischen mythologischen Seefahrervolk der Phäaken auf sich hat, und sie informieren sich über verschiedene Parteien. Beide machen jetzt hier ihr Abitur. Carsten hat in Hamburg Industriekaufmann bei der Telekom gelernt, Johannes nach dem Realschulabschluss und einer Auszeit, in der er keine richtige Lust auf Schule hatte, Bürokaufmann an der Schule. Positiv überrascht war Carsten von den Lehrern: „Die sind engagiert, ganz im Gegensatz zu anderen Lehrkräften in Berlin, die ich schon kennengelernt habe.“ Die Lehrer im OSZ müssen allerdings die Teamarbeit in wöchentlichen Treffen auch selbst praktizieren. Carsten und Johannes sprechen von der „Chance“, die sie ergriffen haben, hier nicht nur Fachabitur, sondern auch Abitur machen zu können. Davon haben sie mehr zufällig erst an der Schule erfahren. Auch Abteilungsleiter Ellerbrock berichtet, dass er immer wieder erstaunt ist, wie wenig die Lehrer an den allgemeinbildenden Schulen über die Möglichkeiten an den Oberstufenzentren überhaupt wissen.

Zu mehr Bekanntheit könnte den vielseitigen Zentren die Berliner Schulreform verhelfen, die zum nächsten Schuljahr in der Hauptstadt in Kraft treten soll. SchülerInnen der dabei neu entstehenden Sekundarschulen, die als einzige Oberschulen neben dem Gymnasium bestehen bleiben, sollen an den Oberstufenzentren ihr Abitur ablegen können. „Ich erhoffe mir“, sagt Schulleiter Marien „eine stärkere Kooperation. Im Moment ist es ja zufällig, wer sich bei uns bewirbt und wer etwas von uns erfährt. Die Doppelqualifikation ist noch gar nicht so bekannt. Durch die engere Kooperation kann das noch viel besser bekannt gemacht werden.“