„Intelligenz wird überbewertet“

NOTEN Die Grundschullehrerin Sabine Czerny wurde strafversetzt, weil ihre Schüler zu gut waren. Ein Gespräch über Auslese, Kindertränen und den Traum von einer Schule ohne Zensuren

■ Leben: Geboren 1972 bei München. Lehramtsstudium, arbeitet seit 1996 als Grundschullehrerin. Nach Schulschluss absolvierte sie u. a. Ausbildungen zur Waldorfpädagogin und Heilpraktikerin.

■ Buch: „Was wir unseren Kindern in der Schule antun“. Südwest Verlag, 17,99 Euro. Buchvorstellung am 26. Oktober im Literaturhaus München.

Interview ANNA LEHMANN

taz: Frau Czerny, wie war es denn heute in der Schule?

Sabine Czerny: Am Anfang des Schuljahrs ist für die Erstklässler alles noch neu und der lange Schultag ist für sie ungewohnt. Ich mache also noch sehr viel spielerisch mit ihnen, wir singen und bewegen uns viel. Das Wichtigste ist, dass der Tag bunt und vielfältig ist, die Gemeinschaft stimmt, sie Vertrauen haben und sich wohlfühlen.

Ist die Schule dazu da, Kinder glücklich zu machen?

Sie ist dazu da, Kindern eine gute Ausbildung zu geben, und dazu gehört, dass es ihnen gut geht. Sie sollen nicht nur pauken und sich darüber vergessen.

Sie schaffen Vertrauen? Wieso ist das so wichtig?

Als Klassenleiterin einer 1. Klasse ist man eine wichtige Bezugsperson für die Kinder, oft die erste fremde außerhalb der Familie. Wenn Sie mir vertrauen, nehmen sie dadurch das, was ich sage, an. Kinder wollen, so wie eigentlich jeder von uns, dass das Beste aus ihnen herausgeholt wird.

Schaffen Sie das?

Ich gebe mein Bestes, aber nein, ich schaffe das nicht. Auch weil ich meine Arbeit immer konterkarieren muss. Ich motiviere Schüler zum Lernen und dann muss ich sie demoralisieren, indem ich ihre Leistungen benote.

Was ist das Problem mit Zensuren?

Noten bringen Druck – ob wir wollen oder nicht. Für die Kinder heißt es: Jetzt musst du es können, schneller, los – da entwickeln Kinder Blockaden. Wenn man ihnen dagegen Zeit gibt und eine gute Stimmung schafft, können sie es oft schneller, als man glaubt.

Die These Ihres Buches lautet: Noten lügen. Inwiefern?

Noten täuschen darüber hinweg, dass alle Kinder fähig sind. Sie sagen nichts über die wahren Fähigkeiten der Kinder aus. Und sie täuschen Objektivität vor: Notengebung ist relativ. Es gibt keinen allgemeingültigen Maßstab.

Starker Tobak – erklären Sie mal, wieso null Fehler im Diktat keine Eins und fünf Fehler keine Drei sind?

Null Fehler im Diktat sind eine Eins, aber es liegt in der Hand des Lehrers, welche Wörter und wie schnell diktiert wird. Auch bei anderen Proben liegt es an der Lehrkraft, welche Aufgaben gestellt werden. Dann wird festgelegt, wie viele Punkte welche Aufgabe bekommt. Und der Notenschlüssel legt fest, mit wie viel Punkten man welche Note erhält.

Und das ist nicht objektiv?

Der Punkt ist: Bei einer Probe ist die Verteilung wichtig. Als Lehrer muss man die Aufgaben so stellen, dass deutlich wird, welche Kinder die Anforderungen schon in besonderem Maße erfüllen, also eine Eins verdienen. Es darf aber nicht nur Einser-Kinder geben, also müssen auch Dreier und Vierer dabei sein.

Wo ist das Problem, die einen sind eben weiter, andere noch nicht?

Ein Weitersein oder eben nicht wäre nicht das Problem. Das Problem ist, wie das bewertet wird. Wenn abgefragt wird, was im Unterricht erarbeitet wurde, entspricht das nach den Vorgaben einer Vier. Das heißt eigentlich: Du erfüllst noch die Anforderungen, du kannst es. Doch für eine gute Note in der Probe ist wichtig, wer die Anforderungen im besonderen Maße erfüllt. Es genügt nicht zu wissen, was man gelernt hat, sondern man muss dafür mehr können. Das ist eine ganz klare Gruppe, die hier bevorzugt ist.

Welche?

Kinder aus sozial bevorzugten Familien haben eindeutig Vorteile. Zunächst schon beim Schreiben- oder Lesenlernen. Die Eltern haben Bücher daheim, sind meist selbst interessiert und gebildet. Einige Kinder können auch schon lesen, wenn sie in die Schule kommen. Bei Proben hat man nur eine bestimmte Zeit zur Verfügung, da ist jeder im Vorteil, der besser lesen kann. Später lernen diese Eltern oft mit ihren Kindern, recherchieren im Internet und üben anhand anderer Prüfungsaufgaben. In den Proben bekommen diese Kinder dann die guten Noten und das Prädikat: intelligent und leistungsfähig.

Und die andere Gruppe?

Die anderen, die zwei Schritte hinterher sind, oft wenig oder keine Hilfe zu Hause erhalten und mit viel größeren Defiziten in die Schule kamen, bekommen in der Probe den Stempel: unfähig, dumm oder faul. Dabei können sie in der Regel das, was sie im Unterricht vermittelt bekommen haben, und lernen oft viel mehr dazu als die anderen Kinder. Unsere Art der Leistungsmessung lässt uns etwas anderes glauben – aber ich erlebe, dass alle Kinder gut lernen können

Sie haben das auch bewiesen. Vor zwei Jahren hatten Sie eine Klasse, in der die Kinder plötzlich nur noch gute Noten schrieben.

Das ist richtig. Wir waren eine gute Gemeinschaft, die Schüler haben gern gelernt. In den Proben haben sie nach einigen Wochen Einserschnitte erzielt. Ich habe aber nicht einfach gute Noten verschenkt, nein: Die Kinder haben sie in Arbeiten erzielt, die in allen Parallelklassen geschrieben und größtenteils gar nicht von mir erstellt waren. Diese guten Schnitte wurden mein Problem.

Zu viele gute Schüler sind nicht gewünscht?

Ich hatte noch nicht einmal das Gefühl, dass es nicht sein durfte. Nein, niemand konnte sich vorstellen, dass es sein kann.

Können Sie sich erklären, warum die Rektorin und das Schulamt so abwehrend reagiert haben. Normal wäre es doch gewesen, sich zu freuen?

Die Verteilung auf die Notenstufen entspricht unserem Begabungsbegriff. Es gibt eben dumme und kluge Kinder. Wir akzeptieren das, weil wir das seit je so kennen. Wir hinterfragen aber nicht, ob das wirklich der Grund für diese Leistungsunterschiede ist. Und dann schließen wir Kinder, die in den Proben schlechtere Ergebnisse haben, von höherer Bildung aus.

Sie wurden strafversetzt. Wie haben Sie sich denn da gefühlt?

Die Kinder in meiner letzten zweiten Klasse hatten mitbekommen, dass ich im Fernsehen war. Und ein Schüler erzählte: Meine Mama hat gesagt, deine Lehrerin ist wie eine Ameise, die gegen einen Elefanten kämpft.

Und stimmt das Bild?

Ich bin ja nicht die einzige Ameise. Und ich glaube, dass wir den Elefanten, also dieses riesige Schulsystem, schon ganz schön gestört haben. Er muss einfach irgendwann umfallen.

Haben sich Ihre Kollegen mit Ihnen solidarisiert, als Sie wegen zu guter Noten in der Kritik standen?

Auf dem Schulflur hat manch einer zu mir gesagt: Ich würde dich gern unterstützen, aber ich kann nicht. Denn wer sich mit mir offen solidarisierte, musste Konsequenzen befürchten. Ein Kollege, der sich für mich einsetzte und beim Schulamt anrief, wurde sogar angeschrien.

Ihre Kompetenz als Lehrerin wurde in Zweifel gezogen. Wieso haben Sie weitergearbeitet?

Ich mag Kinder und ich arbeite gern mit ihnen. Sie sind einfach toll.

Wären Sie nicht glücklicher an einer nichtstaatlichen Schule? Sie haben ja auch Fortbildungen in Montessori-Pädagogik besucht und interessieren sich für reformpädagogische Konzepte.

Zum einen fühle ich mich an der Regelschule doch in gewisser Hinsicht freier. Ich bin nicht durch eine vorgegebene Methode oder Ideologie eingeschränkt, sondern kann je nach Situation das Beste für die Kinder wählen. Ich bin auch wirklich keine Freundin des Mottos: Lerne, wann du willst und was du willst, Hauptsache, du hast einen schönen Tag.

Das ist Ihnen zu kuschelpädagogisch?

Leistung ist mir sehr wichtig.

Wie nun? Sollen die Schüler Leistungen bringen oder sollen sie Spaß am Lernen haben?

Beides. Kinder lieben es, Leistung zu erbringen, und sie empfinden viel Freude, wenn sie etwas können. Freude und Leistung gehören zusammen, das eine entsteht jeweils durch das andere.

Wollten Sie schon immer Lehrerin sein?

Ich habe schon immer gern mit Kindern gearbeitet und wollte schon immer gerne Lehrerin werden. Dennoch hatte ich auch andere Interessen, ich hätte auch gern Mathematik, Physik oder Medizin studiert. Aber Lehrerin sein war das, was ich an sich immer wollte.

Es war also Ihr inneres Bedürfnis zu lehren.

Ja. Es macht mir einfach Spaß und ist so bereichernd, mit Kindern zu arbeiten. Es ist so lebendig und vielfältig mit ihnen, weil sie so unterschiedlich sind.

Wenn man Sie als Superlehrerin bezeichnet …

… gefällt mir das gar nicht. Ich bin kein bisschen besser als viele andere Lehrer, die mit Liebe zu den Kindern arbeiten.

Wie waren die Lehrer, die Sie mochten?

Das waren mein Physiklehrer und meine Sportlehrerin. Zwei an sich grundverschiedene Menschen, aber sie hatten eins gemeinsam: Sie waren authentisch und haben sich um ihre Schüler gekümmert. Wir und was wir von ihnen lernten, war ihnen wichtig.

Und wie vermitteln Sie heute Ihren Schülern Wissen?

Ich nutze die Heterogenität bewusst. Man kann beispielsweise eine beliebig schwere Matheaufgabe in so viele unterschiedlich schwierige Teilaufgaben zerlegen, dass jeder etwas zur Lösung beitragen kann, aber gleichzeitig alle anderen Schritte miterlebt. So ist jedes Kind gefordert, jedes Kind vertieft, jedes Kind hat Erfolgserlebnisse, ohne dass es langweilig wird. Kinder lernen leicht, wenn sie das ganze Spektrum einer Thematik geboten bekommen und so gleich die Zusammenhänge erleben. Sie nehmen das auf, was für sie gerade stimmig ist, und so weit auseinander, wie wir immer denken, sind sie nicht.

„Lernen muss leicht sein“, schreiben Sie. Gilt es etwa, Anstrengung zu vermeiden?

Anstrengung kommt, wenn man weiß, man kann ein Ziel erreichen. Aber dazu brauchen Kinder Erfolgserlebnisse. Wir Lehrer müssen ihnen diese ermöglichen. Es ist frustrierend, nie ein Ziel zu erreichen, aber genau das geschieht durch unsere Art der Leistungsbeurteilung. Ich habe in der zweiten Klasse Kinder gesehen, die einfach aufgegeben haben. In der zweiten Klasse!

Sie schreiben von einer Ihrer Schülerinnen, Martha: „Ich möchte Tierärztin werden. Ich will mich so gern um Tiere kümmern.“ Doch dann ein klarer Blick. „Aber nein, mit meinen Noten komme ich auf die Hauptschule, werde Hartz-VI-Empfänger wie meine Eltern und gehe bei anderen putzen.“ Haben Sie ihr widersprochen?

Im Prinzip hat sie recht. Es gibt natürlich Menschen, die es geschafft haben, ihren Umständen zu entfliehen. Aber das sind Einzelfälle. Die meisten werden früh an ihren Platz verwiesen. Durch die Art der Notengebung wird es die Marthas und Ayshes immer geben. Wir können es nicht verhindern, weil wir die Schularten bedienen müssen.

Haben Sie die Schule als Schülerin auch so einengend empfunden?

Ich war immer bei den Guten und hatte meist Einser und Zweier im Zeugnis, da lebt es sich leichter. Mir ist erst später bewusst geworden, dass ich einfach privilegiert bin.

Inwiefern privilegiert?

Sehr gut: Soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen in besonderem Maße entspricht.

Gut: Soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen entspricht.

Befriedigend: Soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen im Allgemeinen entspricht.

Ausreichend: Soll erteilt werden, wenn die Leistung zwar Mängel aufweist, aber im Ganzen den Anforderungen noch entspricht.

Mangelhaft: Soll erteilt werden, wenn die Leistung nicht den Anforderungen entspricht, jedoch notwendige Grundkenntnisse erkennen lässt.

Ungenügend: Soll erteilt werden, wenn die Leistung nicht den Anforderungen entspricht und die Mängel nicht in absehbarer Zeit behoben werden können.

Durch mein Elternhaus. Mein Vater hat mir beispielsweise schon als Kind die ersten Tricks fürs Rechnen beigebracht. Er ist Mathematiker und hat auch mich begeistert. Als ich in die Schule kam, konnte ich schon rechnen. Ich war also stets einen Schritt voraus.

Vielleicht sind Sie auch einfach gut in Mathe?

Ja, ich war gut in Mathe, die Frage ist nur, warum? Ein Mathe-Intelligenz-Gen?

Zum Beispiel.

Ich glaube nicht. Diese ganze Intelligenzfrage wird überbewertet. Viel wichtiger ist es, zu üben und zu wiederholen. Ich war motiviert zu üben, es hat mir einfach Spaß gemacht zu rechnen, es wurde fast ein Hobby. Ich hatte Einsen, jeder sagte, du kannst es, und dann konnte ich es auch. Ich erlebe das auch in der Schule. Damit Kinder lernen, ist es am wichtigsten, ihnen Erfolgserlebnisse zu verschaffen.

Wie reagiert ein Kind, wenn Sie ihm eine Fünf geben?

Kann man sich das nicht vorstellen? Manch ein Auge füllt sich mit Tränen, einige Kinder verbergen die Note unter ihren Händen. Andere schauen mit leerem Blick in die Ferne. Es ist da auch völlig egal, was ich sage, wie ich versuche, das aufzufangen. Meine Aussage verliert an Wert. Diese Fünf prangt dort, sie ist entscheidend.

Sie motivieren zum Lernen und entmutigen dann durch Zensuren.

Das ist nur sehr schwer auszuhalten. Denn es ist ungerecht, und es werden aus kleinen Unterschieden große gemacht, die gar nicht da sind.

Wären die Noten weg, wäre alles gut?

Das wäre zu einfach. Die Noten sind nur Symptom eines Systems, das selektiert. Ich stelle mir eine Schule für alle vor. In der wir Prüfungen nicht mehr schreiben, um zu selektieren, sondern um Kinder anzuspornen.

Wie würde so etwas denn aussehen?

Dort können wir andere Arten von Prüfungen schreiben. In der Art von Sprachtests etwa. Auf das Anforderungsniveau A1 kann man sich gezielt vorbereiten. Wenn man es erreicht, geht man weiter.

Wenn Sie bayerischen Eltern mit der „Schule für alle“ kommen, heißt es doch sofort: Pfui Einheitsschule. Oder nicht?

Doch, aber nur weil sie vieles nicht wissen. Auf den ersten Blick bietet das dreigliedrige Schulsystem ja auch drei verschiedene Wege. Was sie nicht sehen: Diese selektionswirksamen Prüfungen quetschen alle Kinder auf denselben Zeitpunkt und dasselbe Thema. Unsere derzeitigen Schulen sind also die wahren Einheitsschulen. Nirgends gibt es Individualität und Freiräume. Unsere Kinder marschieren in verschiedenen Schulformen alle im Gleichschritt.

Das sagen Sie als engagierte Pädagogin, aber viele Lehrer finden Noten doch toll, weil sie die Leistungsbewertung so einfach machen?

Das sind aber nicht die Lehrer, die ich zuhauf kenne. Sie leiden sehr darunter, dass sie Noten geben, alles bewerten müssen und sich nicht individuell um jedes Kind kümmern können.

Wieso gibt es dann keinen Aufschrei?

Die meisten Lehrer, die ich kenne, sagen: „Sie haben recht.“ Viele sind sehr engagiert, aber sie stoßen an Grenzen. Sie sind ohnmächtig, weil das System immer stärker zu sein scheint. Wohin soll man sich auch wenden? Ich habe selber erlebt, dass einem nicht zugehört wird. Viele Lehrer versuchen daher in ihrem Bereich alles, was möglich ist, für ihre Kinder zu tun, ein ziemlicher Kräfteverschleiß.

Mit Ihrem Buch fordern Sie die Bürokraten erneut heraus – haben Sie eigentlich keine Angst vor Konsequenzen?

Ein wenig, aber ich bin wütend. Man schimpft immer auf die Lehrer. Aber dieses System verhindert, dass wir gute Lehrer sein können. Man schimpft auf die Schüler, nennt sie dumm, faul und desinteressiert, aber fragt nicht, woher das kommt. Und man schimpft auf die Eltern. Ich glaube, es ist wichtig, all die Zusammenhänge mal darzustellen, damit man verstehen kann.

Anna Lehmann, Jahrgang 1975, ist taz-Bildungsredakteurin und Mutter von drei Kindern, eines davon geht schon zur Schule.